Designerin Grace Wales Bonner

Moderne Eleganz mit politischer Agenda

Grace Wales Bonner verknüpft intellektuelle und kommerzielle Mode und wird seit Jahren für einen Topjob in der Fashionwelt gehandelt. Nun wird sie Kreativdirektorin der Herrenlinie bei Hermès - und damit die erste Schwarze Chefdesignerin bei einem Luxushaus in Europa

Grace Wales Bonner hat ihren Herzensjob ergattert. Vor etwa sechs Jahren erklärte die britische Designerin dem "System Magazine", dass es ihr Traum sei, für Hermès zu arbeiten, das französische Luxushaus schlechthin. Jetzt wurde sie als Kreativdirektorin der Herrenlinie der Marke ernannt – und man möchte sagen: endlich. 

Seit Jahren zirkuliert Bonners Name, wenn es darum geht, neue Positionen in den großen Modehäusern zu besetzen: Sie hat Talent, sie versteht es, kommerziell erfolgreiche und gleichzeitig intellektuell ansprechende Kleidung zu kreieren. Und seit Jahren geht der Job doch immer wieder an jemanden anderen – meistens einen weißen, mittelalten Mann. 

Jetzt ist Grace Wales Bonner die erste Schwarze weibliche Kreativleitung bei einem europäischen Luxusmodehaus. Bei all den Maisons und Positions-Wechseln sollte dieser Satz zum Nachdenken anregen. Und genau das wird Wales Bonner sicher auch in ihrer neuen Rolle tun.

Jeder Entwurf wirkt intelligent und durchdacht

Ihre Arbeit basiert auf den Ergebnissen einer gründlichen, fast schon akademischen Recherche. Sie nennt es ein spirituelles, künstlerisches Training. Jeder Entwurf wirkt intelligent und durchdacht. Vielleicht auch deshalb ist ihre erste Kollektion für Hermès erst für den Januar 2027 geplant. 

Das Beispiel Matthieu Blazy bei Chanel hat gezeigt, wie gut es den Designs tut, wenn es genügend Zeit für ihre Entwicklung gibt. Und wer denkt, diese prominente Ernennung sei Grace Wales Bonners erster großer Erfolg, der irrt. Die Londonerin ist seit 2014 auf dem Radar der Modewelt, als sie ihre eigene Marke Wales Bonner kurz nach ihrem Abschluss an der Modeschule Central Saint Martins gründete. 

Sie begann als reine Herrendesignerin, integrierte aber bald auch Damenlooks in ihre Kollektionen und entwickelte später eine eigene Linie für Frauen. Schon ihre Abschlusskollektion "Afr ique" war heiß begehrt bei großen Boutiquen - mit ihr gewann sie auch den L'Oréal Professionnel Talent Award. Viele weitere Preise folgten, darunter der LVMH Preis (2016) und die Auszeichnung als "British Menswear Designer of the Year" bei den Fashion Awards 2024. Letztere ist vermutlich die wichtigste in ihrem bisherigen Lebenslauf. Oder auch die Ernennung zum Member of the Order of the British Empire (MBE) für ihre Verdienste in der Mode. Wer also ist diese begabte, in der breiten Öffentlichkeit aber noch wenig bekannte Designerin?

Schneiderkunst und sportliches Erbe

Grace Wales Bonner wurde 1990 in Südost-London geboren. Ihre Mutter ist englischer Abstammung, ihr Vater hat jamaikanische Wurzeln. Ihre Herkunft ist es auch, die immer wieder Impulse für Kollektionen gibt – die Schwarze Kultur ist zentral für ihre Arbeit. 

Ihre Kreationen verbinden hohe Schneiderkunst und klassische, formelle Kleidung mit sportlichen Elementen und afrikanischen Symbolen und Handwerkstraditionen. Inspiration für diese Ästhetik fand Wales Bonner schon vor vielen Jahren – im Schulbus. "Ich habe so viele Menschen gesehen, die aus unterschiedlichen kulturellen Hintergründen kamen und alles miteinander kombinierten", erklärte sie der "Financial Times" im April. "Man kann etwas Traditionelles tragen – aber dazu Sneaker. Diese Dualität, diese Hybridität – es geht darum, zwischen zwei Welten zu stehen. Genau dieser Zwischenraum interessiert mich. Ich habe mich immer dagegen gewehrt, mich festlegen zu lassen.

Musik, Film, Fotos – alles kann für Wales Bonner Anfangspunkt sein, um Identität, Herkunft und Begegnung zwischen Kulturen zu thematisieren und in Kleidung zu übersetzen. Ihre frühen Kollektionen erforschten vor allem das Bild Schwarzer Männlichkeit jenseits von Klischees und inszenierten den Träger ihrer Entwürfe als Intellektuellen, Poeten und spirituelles Wesen.

Reggae, Soul und Jazz zum Anziehen

Ein wiederkehrendes Thema ist die Verbindung zwischen Afrika, der Karibik und Europa. In Kollektionen wie "Malik" (2016) oder "Spirituals II" (2021) untersuchte sie, wie sich kulturelle Hybridität, Migration und Diaspora in Kleidung ausdrücken können. Musik und Poesie spielen ebenfalls eine zentrale Rolle. Wales Bonner lässt sich von Reggae, Soul, Jazz und afrikanischen Rhythmen inspirieren und integriert diese in ihre Erzählungen über Jugend, Freiheit und Zugehörigkeit – etwa in der Kollektion "Lovers Rock" (2022). 

Der Intellekt ihrer Mode speist sich oft aus der Auseinandersetzung mit Denkern wie Frantz Fanon, W. E. B. Du Bois oder Stuart Hall. Grace Wales Bonner begreift ihre Designs als Ausdruck kultureller Forschung, verbindet moderne Eleganz mit einer politischen Agenda.

Ihre Ideen wirken stimulierend, da ihre Inspiration aus so vielen unterschiedlichen Disziplinen stammt. Gleichzeitig ist ihre kreative Arbeit nicht allein auf Modedesign beschränkt – gefühlt mühelos überträgt sie ihre Interessen und ihre Arbeitsweise auf andere Bereiche. Im November 2023 war sie eingeladen, an der renommierten Artist’s-Choice-Reihe des Museum of Modern Art in New York teilzunehmen.

Vom MoMA zu Adidas

Rund 40 Werke aus der Sammlung trug Wales Bonner unter dem Titel "Spirit Movers" zusammen. Klang, Bewegung, Performance und Stil in der afrikanischen Diaspora und darüber hinaus waren die roten Fäden der Auswahl. "'Spirit Movers' ist eine zutiefst persönliche Meditation über den Ausdruck Schwarzer Identität – und spiegelt Wales Bonners Verständnis von Archivrecherche als spirituelle Praxis und ästhetische Form wider", so beschrieb es das MoMA. "Sie hat unsere Wahrnehmung von Stil grundlegend verändert."

Vor der high fashion hat diese Stärke schon ein deutscher Sportriese erkannt. Seit 2020 arbeitet Grace Wales Bonner mit Adidas Originals zusammen und interpretiert historische Sneaker-Modelle neu. Der SL72, ein Laufschuh aus dem Jahr 1972 gehört dazu, der Adidas Superstar und der Adidas Samba. Letzterer galt gerade durch die Kollaboration als der gefragteste Schuh der letzten Jahre. 

Im Herbst 2020 zeigte Wales Bonner eine Version mit gehäkelten Details; spätere Varianten erschienen in glänzendem Lackleder. Nach der Veröffentlichung ihres Ponyfell-Sambas im November 2023 stiegen laut der Plattform Lyst die Online-Suchen nach dem Modell um über 13.000 Prozent, und so wurde er offiziell zum Schuh des Jahres gekürt. Mittlerweile gehört er zu den meistverkauften Produkten von Adidas.

Die perfekte Wahl

Im vergangenen Juni zeigte Grace Wales Bonner ihre Jubiläums-Show zum zehnjährigen Markenbestehen in Paris. Kurz zuvor war sie bei der Met Gala 2025 mit dem Thema "Superfine: Tailoring Black Style" als Mitglied des Host Committee aufgetreten. In dieser Rolle hatte sie hochkarätige Gäste wie FKA Twigs und Lewis Hamilton eingekleidet. 

Das Thema der Ausstellung und der Gala spiegelte ihre zentrale Design-Philosophie wider, und so bediente sie sich daran auch für ihre in Paris gezeigte Kollektion. "Ich habe dieses Gefühl – diese ausdrucksstarke Art, sich zu kleiden – in eine alltagstauglichere Garderobe übersetzt", sagte sie der "Vogue". Exzellenz aus vielen, wohlüberlegten Lagen, nicht minimalistisch, aber genauso wenig performativ. 

In ihrem Text zur Kollektion schrieb Modekritikerin Sarah Mower für "Vogue Runway": "Warum Designerinnen, die nachweislich so einflussreich und zugleich kommerziell versiert sind wie Grace Wales Bonner und ihre ältere britische Kollegin Martine Rose, bislang von keinem Modehaus oder keiner Marke engagiert wurden, ist weniger ein Rätsel als vielmehr eine absolute Schande für die Branche." Ziemlich spät, aber noch immer rechtzeitig, um von ihrer Brillanz zu profitieren und ihr Können in ein angemessenes Setting zu setzen, hat Hermès jetzt zugeschlagen. Und ein seltenes Mal waren sich alle Menschen im Internet einig: Grace Wales Bonner ist die perfekte Wahl.