Neuer Film von Julian Schnabel

Die Quantenmechanik des Kinos

Bei den Filmfestspielen von Venedig hat Maler und Regisseur Julian Schnabel seinen neuen Film präsentiert. Mit "In the Hand of Dante" ist ihm ein berauschender Mix aus Gangster- und Historienfilm gelungen

Im neuen SMAC-Ausstellungshaus am Markusplatz in Venedig hat gerade die Ausstellung "The Quantum Effect" eröffnet, die bis zum 23. November läuft. Daniel Birnbaum und Jacqui Davies haben Werke von Dara Birnbaum, Isa Genzken, Jeff Koons oder Mark Leckey zusammengestellt, die den aberwitzigen Möglichkeitsraum der Kunst mit Quantenmechanik, der verrücktesten physikalischen Disziplin, verschränkt. Es stimmt schon: Nicht nur auf subatomarer Ebene ist die gewohnte Welt aus den Fugen, sondern auch im Hier und Jetzt. "Normalität" ist eine Wunschprojektion ängstlicher Gemüter – wahrscheinlich. Und das Filmfest auf dem Lido kann als Portal zu vielen Paralleluniversen betrachtet werden.

Besonders zwei Filme stellen die anderen Produktionen dieses Festivals (soweit der Autor das Programm abgearbeitet hat) in den Schatten, was Delirium und Verrücktheit angeht. Da wäre der um den Goldenen Löwen konkurrierende "The Testament of Ann Lee" von Mona Fastvold. Die Partnerin des "Brutalist"-Regisseurs Brady Corbet, der hier am Drehbuch mitschrieb, hat ein Musical über die Gründung der Shaker-Sekte im 18. Jahrhundert inszeniert: rauschhaft und zugleich asketisch. Ein Film, der in Stimmung und Struktur so eigenartig ist, dass die Jury dieses "Testament" bei den Preisen kaum übergehen dürfte.

"In the Hand of Dante" läuft auf der Mostra dagegen außer Konkurrenz. Der Plot von Julian Schnabels siebtem Spielfilm erinnert ein wenig an die Spurensuche in "The Da Vinci Code", nur, dass der Maler und Regisseur seine Geschichte um einen New Yorker Schriftsteller und seine Verbundenheit mit dem legendären Dante Alighieri viel experimentierlustiger erzählt. 

Zeit und Raum sind aufgehoben

Zeit und Raum sind in diesem schrägen Mix aus Gangster- und Historienfilm aufgehoben. Man kann natürlich generell sagen: Das ist die Quantenmechanik des Kinos. Nur: Wenige nutzen die Möglichkeiten des Mediums so gekonnt und hemmungslos wie hier Schnabel, der als Künstler vielleicht nicht zufällig in der Hochzeit der Postmoderne berühmt geworden ist.

Als Regisseur fühlte er sich immer zu extremen Figuren hingezogen, meistens zu Künstlern, die ihr Schaffen als Angelegenheit von Leben und Tod betrachten, angefangen mit "Basquiat", der 1996 als Schnabels erster Spielfilm herauskam. Zuletzt war in Venedig 2018 sein Künstlerdrama "At Eternity's Gate" zu sehen. Willem Dafoe spielte darin den sich bei der Arbeit verbrennenden Vincent van Gogh.

Mit "In the Hand of Dante" adaptierte Schnabel einen Roman von Nick Tosches aus dem Jahr 2002. Inzwischen ist der vor allem durch Sachliteratur bekannte Autor (Biografien von Jerry Lee Lewis oder Dean Martin, Bücher über Drogenkultur und Rock'n'Roll) verstorben. "Dante" ist ein atemberaubendes Stück mit autofiktionalen Zügen, ein chaotischer Roman, den Schnabel gemeinsam mit seiner Ehefrau Louise Kugelberg zu einer kurzweilig-schmutzigen Story zum Drehbuch gestrafft hat. Kunstschaffen ist in diesem Film, der Gewaltverbrechen mit dichterischer Leidenschaft verbindet, eine existenzielle Sache. Für den Sieg von Einbildungskraft und Poesie geht die Hauptfigur über Leichen.

Von Anfang an antisozialen Untertöne

Nick Tosches hatte sich im Roman selbst zum Protagonisten gemacht. Oscar Isaac, der vor einigen Festivaltagen schon als Guillermo del Toros "Frankenstein" bejubelt wurde, spielt diese fiktive Version des Autors als langhaarigen Outlaw, dem wir zuerst in einer Bar begegnen. Beim Bier doziert Nick über seine Obsession mit Dantes "Göttlicher Komödie" und darüber, dass er lieber gequält würde, als sich einem Lektor zu unterwerfen. 

Schon hier deutlich spürbar: die antisozialen Untertöne, gepaart mit einer Sehnsucht nach Reinheit, die Schnabels Helden häufig aufweisen. In einer Rückblende sehen wir Nick als Jugendlichen, der einen anderen mit einem Messer ersticht. Danach gesteht der Junge die Tat seinem Onkel (passenderweise gespielt vom "Paten" Al Pacino). Er habe nichts falsch gemacht, erklärt ihm der weise Verwandte, und er sei auch niemandem ein Geständnis schuldig – außer Gott, der ohnehin seine Augen und Ohren überall habe und alles wisse.

Es ist etwas schwierig, von der "Gegenwart" des Films zu sprechen, da Schnabel von den 1990er- bis 2000er-Jahren ins 14. Jahrhundert von Dante Alighieri springt. Interessanterweise sind die Szenen von Nick und Konsorten in Schwarz-Weiß gehalten, während Dantes Welt – Florenz, Palermo und Venedig im Spätmittelalter – in leuchtenden Farben auf die Leinwand kommt. 

Der Schriftsteller geht über Leichen

In den entsättigten 1990ern jedenfalls tritt ein brutaler Killer, die rechte Hand eines Gangsterbosses, auf. Gerard Butler brilliert als vulgärer Mörder Louie; John Malkovich gibt seinen Auftraggeber Joe Black, der Louie einen unglaublichen Coup in Aussicht stellt: Er soll nach Italien reisen und das wertvollste literarische Artefakt aller Zeiten stehlen – das Originalmanuskript der "Göttlichen Komödie" in Dantes eigener Handschrift. Und dafür braucht der Gangsterboss Nick als Experten, der die Echtheit bestätigen soll.

Die erste Hälfte von "In the Hand of Dante" (Gesamtlänge: 151 Minuten) ist derartig gewalttätig und packend, dass man Schnabel auch die Inszenierung eines neorealistischen Gangsterfilms zutrauen würde. Eine Szene, in der Nick und Louie in Palermo das ersehnte Dokument stehlen, brennt vor fiebriger Spannung. 

In einer zweiten Phase – Joe Black verlangt, dass die Authentizität des Manuskripts zweifelsfrei feststeht – gibt sich Nick als Historiker aus und entwendet in verschiedenen Bibliotheken und Archiven Dokumente aus Dantes Zeit, gibt Radiokarbon-Datierungen und andere Prüfmethoden in Auftrag. Auch das inszeniert Schnabel wie einen Krimi. Wobei sich Nick als ähnlich schießwütig wie der dumpfbackige Louie erweist. Der Schriftsteller und Literaturliebhaber geht nicht nur virtuell über Leichen.

Ein außergewöhnliches Kinoerlebnis

Dazu blendet Schnabel wie erwähnt zurück ins 14. Jahrhundert. Dante Alighieri wird ebenfalls von Oscar Isaac gespielt – und zwar mit melancholischer Grandezza. Wir erleben die politischen Verwicklungen des Dichters und seine erste Begegnung mit der 13-jährigen Beatrice, die er nie ansprach, aber zur Muse erkor – und der er die "Göttliche Komödie" widmete. 

Im Kern sind die Rückblenden Meditationen über Liebe und Gott (und schüren keine Spannung). Das Publikum lässt sich darauf ein – vor allem, wenn ein bärtiger Martin Scorsese als Dantes Mentor Isaias erscheint und mit zarter Religiosität Andeutungen über den "inneren Sinn des Lebens" macht.

Dantes Problem: Er heiratete Gemma (Gal Gadot), blieb jedoch so sehr Beatrice verfallen, dass er außerhalb seiner Ehe – und letztlich außerhalb seines eigenen Lebens – stand. Dieser Fehler muss bereinigt werden, so die Logik von Schnabels Entwurf. Deshalb wird Dante als Nick wiedergeboren (ja, wirklich!) und geht eine Beziehung mit Giulietta ein (ebenfalls von Gadot gespielt), damit das Happyend zumindest in greifbare Nähe rückt. Aber vorher wird es noch viel Blut und Gemetzel geben. Alles klar? Der Plot, der hier nur angerissen werden kann, klingt krude, doch die Inszenierung entfaltet eine Magie, die den Film zu einem außergewöhnlichen Kinoerlebnis macht.

Dieser Film gibt den Glauben an das Kino zurück

"In the Hand of Dante" ist ein Film, der einen entweder ratlos zurücklässt – an dem man sich andererseits aber auch berauschen kann. Schnabel ist einfach ein verdammt guter Erzähler, der einen mit Spannungsbögen, Witz und spektakulären Volten immer wieder bei der Stange hält. 

Was die Philosophie angeht, hätte er allerdings ruhig ein bisschen abrüsten können. Aber das ist fast schon zu viel Gemäkel an einem Film, der einem den Glauben an das Kino zurückgibt. Und die Überzeugung, dass wir zukünftig noch in viele Paralleluniversen reisen können.