Künstlerin Heather Dewey-Hagborg

"Kunst nimmt biopolitische Systeme auseinander"

Eine Zigarettenkippe, ein ausgespuckter Kaugummi: Die New Yorker Künstlerin Heather Dewey-Hagborg erstellt 3D-gedruckte Porträts aus gefundenen DNA-Proben von Fremden. Auf dem Berliner Digitalfestival Transmediale zeigt sie das Gesicht der Whistleblowerin Chelsea Manning in 30 Variationen. Im Interview spricht die Künstlerin über Körper, Daten und aktivistische Kunst

Heather Dewey-Hagborg, Sie haben 2012 begonnen, auf Grundlage von DNA-Proben 3D-gedruckte Porträts herzustellen. Wie kam es dazu?
Es fing mit einem einzelnen Haar an. Ich war bei meinem Therapeuten, und ich konnte meinen Blick von einem Haar im Bilderrahmen an der gegenüberliegenden Wand nicht abwenden. Von wem könnte das Haar stammen? Ich wollte verstehen, was mit gefundenen forensischen Proben möglich ist, deshalb machte ich einen Crashkurs in dem öffentlichen Biologie-Labor, das gerade in Brooklyn eröffnet hatte — das erste seiner Art. Schließlich führte das zu "Stranger Visions", halb-spekulativen 3D-gedruckten Porträts, die zeigen, was Genomanalyse über eine Person verraten kann.

Was ist dann passiert?
Ich wollte immer etwas mehr damit machen, mehr von den Leuten analysieren. Dann gab es aber diesen Medienwirbel. Das hat meine ganze Zeit in Anspruch genommen und meinen Enthusiasmus etwas gebremst. In meiner Arbeit habe ich auf meine eigene Arbeit reagiert, und zwar mit "Invisible". Das habe ich 2015 bei der Transmediale gezeigt. Im Prinzip waren das zwei Gegenüberwachungssprays: eins, um DNA-Spuren zu entfernen, und ein anderes, um sie zu überdecken. Ich habe einmal durchgespielt, wie man sich vor genetischer Überwachung schützen kann. Denn DNA-Beweise sind fragil, auch wenn sie im Polizeikontext als das Nonplusultra gelten. Dabei ist es gar nicht schwer, das zu manipulieren.

Wieviel Spekulation steckt denn in "Stranger Visions"? Ergibt ein wenig DNA schon ein Porträt? Und bildet es ab, wie eine Person wirklich aussieht?
Auf keinen Fall! Gerade das sieht man ja an dem Projekt. Ich wollte aber auch zeigen, dass diese Technologie in der Entwicklung ist. Das nennt sich forensische Phänotypisierung. Dabei soll die DNA eindeutige Rückschlüsse geben, wie jemand aussieht. Ein paar Jahre später bot die Firma Parabon Nano Labs "DNA Snapshots" an. Plötzlich war meine Arbeit keine Spekulation mehr.

Wir verlieren ständig DNA. Ist das eine prädigitale Metapher für die Datenspur, die wir hinterlassen?
Definitiv. Als ich meinen Erkenntnismoment mit dem Haar hatte, dachte ich an Überwachung, an Google, an unsere digitalen Körper aus Daten. Während ich das Haar anstarrte, kam es mir: Wir diskutieren über Informationen und die Überwachung unseres elektronischen Selbst. Aber es gab keine Debatte über dieses organische Chaos, unseren Körper und seine Hinterlassenschaften — als wären wir reine Repräsentation, nur ein Bild oder eine Datenspur und nicht physische Subjekte. Der physische Körper wurde beinahe vergessen.

In Ihrer Arbeit machen Sie Körper wieder sichtbar.
Die Zusammenarbeit mit Chelsea Manning war die extremste und intimste Variante davon. Indem sie mir Speichel- und Haarproben aus dem Gefängnis schickte, konnte ich das ändern. Wenn man sich Technologie aneignet und neu konfiguriert, kann man sie zu etwas Befreiendem machen.

Chelsea Manning wurde 2013 zu 35 Jahren Haft verurteilt. Wie kam es zu dem Kontakt?
2015 bekam ich einen E-Mail. Das "Paper Magazine" fragte, ob ich Interesse hätte, ein DNA-Porträt von Chelsea anzufertigen. Sie hatten ein Interview geführt, und das musste per Post geschehen. Das Magazin brauchte nun noch ein Bild zum Artikel.

Und die Zusammenarbeit ging weiter?
Wir blieben im Gespräch. Zu Beginn sagte Chelsea mir, dass sie sich auf meine Arbeit freut, sie sei aber auch besorgt, dass sie zu männlich erscheint — wegen ihres genetischen Geschlechts. Mir war klar: Das ist die perfekte Gelegenheit, den vermeintlichen genetischen Determinismus ins Spiel zu bringen. Deshalb besteht die erste Version aus einem genderneutralen und einem feminisierten Porträt.

Bis vor kurzem gab es nur sehr wenige Fotos von Chelsea Manning. Am bekanntesten ist wahrscheinlich das Selfie in schwarz-weiß. Edward Snowdens Bild hingegen war überall. Trotzdem ist Chelsea Manning auch eine Art Celebrity geworden.
Es ist faszinierend, wie sich das entwickelt hat. Manning wurde die Sichtbarkeit verweigert. Zwar konnte sie im Gefängnis mit der Außenwelt in Kontakt treten, ausgerechnet über Twitter. Das ging aber nur per Brief über einen Mittler, weil sie nicht direkt posten konnte. So bekam sie eine Stimme. Seit ihrer Verurteilung konnte sie niemand besuchen, niemand konnte sie fotografieren.

Was steckt hinter dem Titel "A Becoming Resemblance"?
Gute Frage, der Titel ist von Roddy Schrock, der die Ausstellung in der Fridman Gallery vergangenes Jahr kuratiert hat. Was denken Sie?

Ich dachte daran, dass da etwas im Werden ist. Aber becoming kann ja auch heißen, dass jemandem etwas gut steht.
Stimmt. Chelsea hat sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen. Aber diese Ausstellung wurde auch erstmals gezeigt, als sie gerade aus dem Gefängnis kam. Sie wurde zur öffentlichen Person, fand zu ihrer Identität mit all den Schwierigkeiten, die dazugehören. Schaut man sich die verschiedenen Porträts aus ihrer DNA an, sieht man erst, wie viele Versionen unseres Selbst es gibt, wer wir sein können. Oder wer wir eben nicht sein können.

Das sind Versionen eines Quellcodes.
Genau.

Eine ältere Variante der Masken trägt den Titel "Radical Love". Das klingt nach einem Slogan aus den 60ern, nach Aktivismus. Was bedeutet das heute überhaupt?
Das ist ein Zitat aus dem Interview mit Chelsea im "Paper Magazine". Sie sagte dort, dass sie sich mit dem Begriff "radikal" nicht identifiziert. Sie fragte: Ist es radikal, lieben zu wollen? Das fiel mir gleich auf. Also habe ich das als Titel genommen. Es entsteht außerdem Intimität, wenn man mit einer Person arbeitet, die man nie getroffen hat, die man nur über Spuren des Körpers und die Darstellung der Daten kennt. Man kann viel darüber diskutieren, was an Liebe radikal ist, und was das bedeutet.

Trump inszeniert sich gerne als Anti-Establishment, und die Rechten beanspruchen die radikale Position gegen die Gesellschaft. Vielleicht scheint Chelsea Manning auch deshalb nicht radikal.
Sicher. Ich denke, darauf zielt dieser Satz ab: die Unklarheit, was radikal ist und was eigentlich ganz normal ist. Seit der Wahl von Trump ist die Lage kompliziert. Seine Amtseinführung ist ein Jahr her, etwa zur gleichen Zeit wurde Chelsea begnadigt. Das führte dazu, dass wir die Ausstellung geplant haben. Sie ist eine wichtige Figur im Kampf für mehr Transparenz.

Welche Rolle hat Kunst in politischer Einmischung?
Ich würde sagen, das hat mit Biopolitik zu tun. Die Rolle der Kunst ist, biopolitische Systeme zu prüfen und sie auseinanderzunehmen. Kunst hat auch ihren Platz da, wo es gilt, das System zu stören, die Medien des Systems zu nutzen. Darum ging es bei der Arbeit mit Chelsea: die Überwachungswerkzeuge an die Grenzen zu bringen und zu hinterfragen.