Jeder seine eigene Revolution: Ein Nachruf auf Christoph Schlingensief.

Hey Christoph, wo bist du?

„Der August ist ein gefährlicher Monat“, so formulierte es Alexander Kluge in der „Zeit“ Anfang August 2010. Am Ende desselben, gefährlichen Monats hat sich Christoph Schlingensief, den Kluge „Kamerad“ nannte, versteckt. Wieso versteckt? Oberflächlich betrachtet, ist er gestorben. So etwas hat er öfters gemacht, in Filmszenen, auf der und rund um die Theaterbühne. Dieses Mal aber, so zumindest behauptete es seine Ehefrau Aino Laberenz direkt nach der Trauerfeier in Oberhausen, hat er sich „ganz gut versteckt“. Hey, Christoph, wo bist du? Eine SMS: „Nö, ich zeige mich nicht. Klopf an die Backstagetür, irgendjemand wird schon öffnen.“ Bei der Trauerfeier predigte Pater Klaus Mertes SJ – ebenfalls eher ein Türöffner denn ein Türsteher –, der Schlingensief in dessen letzten Stunden begleitet hatte. Und es war eine Donnerpredigt, voller Zorn, aber auch voller Hoffnung: Wenn wir uns dem Tod, in all seinen Facetten, nicht stellen, dann können wir uns auch nicht als Teil der Kultur verstehen, in der wir leben. Sterben heißt daher leben. Mertes’ Worte klangen wie eine Bestätigung des wundervollen Nachrufs von Elfriede Jelinek: „Es ist, als ob das Leben selbst gestorben wäre.“ Am Ende der Trauerfeier spielte Helge Schneider auf der Kirchenorgel ganz leise komische, jazzige Miniaturen, die ebenso plötzlich, wie sie sich aufbauten, auch wieder verschwanden, als ob sie andauernd miteinander Versteck spielten. Hey, Christoph, wo bist du? Der August ist ein gefährlicher Monat.
Auch in der bildenden Kunst hat Schlingensief Versteck gespielt. Er war gern präsent. Und er hatte auch in diesem Bereich wagemutige Unterstützer. Zugegeben, viele waren es nicht, aber immerhin: Catherine David, Klaus Biesenbach, Hans-Ulrich Obrist, Stephanie Rosenthal, Ulrich Wilmes und einige andere, meist jüngere Kuratoren. Für viele aus der Kunstwelt galt Schlingensief jedoch als lediglich „sympathisch“, was nichts anderes als ein Schimpfwort bedeutet in der Welt der professionellen Ausstellungsmacher und Sammler. Dennoch war Schlingensief sehr stolz auf seine Auftritte im Haus der Kunst in München oder in einer Gruppenaustellung im Centre Pompidou in Paris. Aber im Grunde kannte er sich nicht aus, nicht wirklich. Wozu auch? Natürlich gab es auch für ihn Brauchbares und Gewünschtes zu entdecken: Beuys, Gilbert & George, Allan Kaprow, Paul McCarthy. Schlingensief interessierte sich allerdings eher, um seinen Lehrer Werner Nekes zu zitieren, für die „Bilder zwischen den Bildern“. Daher fühlte er sich nicht ganz wohl in einem Milieu, geprägt durch Konsum und Kommerz, das vor allem fasziniert ist von der Schaffenskraft, mit der Bilder entstehen.
In der ersten Hälfte der 80er-Jahre erscheinen Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“ und Sloterdijks „Kritik der zynischen Vernunft“. Der eine Denker geht in die Defensive, der andere amüsiert sich auf modische Art und Weise. In diesen Jahren macht Schlingensief seine ersten Filme. Ihn scheint aber weder das eine noch das andere zu interessieren. Stattdessen will er demonstrieren – und auch vorleben –, dass jeder von uns seine eigene Revolution sei. Später stellt er sich aus, die eigenen Krankheiten und das eigene Sterben inbegriffen. Aber Schlingensief kratzt nicht nur an sich selbst, er arbeitet auch an der deutschen Gegenwart, er gräbt sie aus, ob in Filmen, Aktionen, Theaterstücken oder in Interviews. Er interessiert sich nicht für eine Teilung in Kunstsparten, aber ebenso wenig für eine Auflösung der Spartenparzellen. Wie oft hat er behauptet: Ich bin kein Filmemacher mehr. Dann wieder fühlt er sich viel eher in einem Museum zu Hause als im Theater.
Widerspricht er sich? Nein, er ist ein Suchender: Er sucht Komplizen. Er untersucht Handlungen. Aber eines ist wichtiger als alles andere: Wohnen und arbeiten will er in einem Land der Ideen, nicht nur in einem Land der Bilder. Er lässt sich nichts vorschreiben, er „handelt“, und zwar, wie in seinem Afrikaprojekt, immer in Sinne eines „Unterhändlers“.
In den letzten Monaten verhandelte er stets über Geld, er brauchte sogar sehr viel davon für das sogenannte Operndorf in Burkina Faso. Während seines allerletzten öffentlichen Auftritts, Ende Juni in München zur Eröffnung der Opernfestspiele, wo er in „Remdoogo – Via Intolleranza II“ selbst den „Neger“ spielte, zeigte er auf der Bühne, aber ohne Hohn oder zynische Vernunft, die am selben Tag erschienene Kunstmarktseite der „FAZ“: die Abbildung eines fotorealistischen Gemäldes von Gerhard Richter, betitelt „Neger“, aus dem Jahr 1964. Es sollte kurz darauf versteigert werden und wurde als teuer eingeschätzt. Einige Tage später liegt Schlingensief im Krankenhaus und muss wieder bestrahlt werden. Die Lage ist zappenduster. Das Kunstwerk spielt etwa vier Millionen Euro ein. Es hätte mehr als gereicht für „Remdoogo“ und für noch viel mehr Ideen von Schlingensief.
Am Tag der Trauerfeier für den Afrika-Aktionskünstler Schlingensief in Oberhausen präsentiert der Bundesbank-Aktionskünstler Thilo Sarrazin in Berlin sein neues Buch. Der August ist ein gefährlicher Monat. Einige Gäste der Trauerfeier sehen im Fernsehen seinen peinlichen Auftritt. Hey, Christoph, wo bist du? Wir brauchen deine Matrix von Ideen mehr denn je. Und es ist an der Zeit, dass das Ausland spürt, dass es in Deutschland nicht nur exaltierte oder kühle Bilder gibt. Christoph, die Kuratorin Susanne Gaensheimer wird das schon schaffen auf der nächsten Biennale in Venedig, denn „es gibt keinen Plan B“. „Christoph Schlingensief ist nicht tot“, schrieb Alexander Kluge in einem Nachruf, der eigentlich gar keiner sein wollte.