"Camille Claudel 1915" auf der Berlinale

Hochbegabte ohne Perspektive

Ein Leben zwischen Arbeitswut und Zerstörungsdrang: Bruno Dumonts Film über die Leidensgeschichte der Künstlerin Camille Claudel im Berlinale-Wettbewerb

Künstlerfilme bieten die Möglichkeit, Werkentwicklung und Persönlichkeit eines Künstlers dramatisch engzuführen. Aber was bleibt substantiell von den Bildwerken, wenn sie bloß Lebensstationen und Wendepunkte illustrieren? Für „Moulin Rouge“ (1952), ein Biopic über Henri Toulouse-Lautrec, gab John Huston zur Nachahmung der Lautrec-Farbpalette sogar ein spezielles Technicolor-Verfahren in Auftrag. Aus Künstlerfilmen wie „Ein Leben in Leidenschaft“ (1956, über Vincent van Gogh), „Goya“ (1974) oder „Camille Claudel“ (1989 auf der Berlinale uraufgeführt) sind die konkreten Werke nicht wegzudenken. Meistens befördern sie das Klischee vom Genie, das der Wahnsinn treibt.

Die Handlung von „Camille Claudel 1915“ setzt da ein, wo Bruno Nuyttens ältere Adaption endete. Nuytten zeigte die tragische Liebesgeschichte zwischen Camille und Auguste Rodin, schilderte, wie die Künstlerin nach dem Abbruch der Beziehungen zum berühmten Bildhauer ihr Dasein in einer Kellerwohnung fristete. Ein Leben zwischen Arbeitswut und Zerstörungsdrang.

Bruno Dumont bringt nun einen Künstlerfilm ohne Kunst in den Berlinale-Wettbewerb. Unfähig, noch Nennenswertes zu schaffen, vegetiert Camille in einer psychiatrischen Anstalt dahin. Hier, im südfranzösischen Montdevergues, gibt es keine Skulpturen, nur hohe Steinmauern. Camille bäumt sich vergeblich auf, sie droht zu verkümmern unter lauter lallenden, vor sich hin starrenden oder dumpf grinsenden Mitpatienten. In der kargen Zelle  verfasst sie glühenden Briefe, vor allem an ihren Bruder Paul Claudel, der sie aus dem Gefängnis herausholen soll. Einmal fällt ihr Blick auf ein Blumenbild, dass sie zuletzt auf ein Stück Briefpapier zeichnete. In Camilles Gesicht spiegelt sich die Sehnsucht, wieder schöpferisch zu arbeiten, dann verdunkeln sich ihre Züge. Die Zeichnung macht ihr Angst. Kurz darauf, im Anstaltsgarten, knetet sie auf einem Lehmklumpen herum. Wieder dieser verstörte Blick. Die Hand wird kraftlos, der Klumpen fällt. Camille wird nie wieder künstlerisch arbeiten.

Dumont hat einen Film von großer, herber Schönheit inszeniert. Er konzentriert sich auf wenige Tage im Winter 1915. Camille steigert sich in ihre Angst vor angeblichen Intrigen Rodins hinein, ihr Essen, zwei Kartoffeln pro Abend, kocht sie sich selbst, aus Angst, vergiftet zu werden. Ihre Stimmung hellt sich auf, als der Besuch ihres Bruders Paul angekündigt wird. Doch der Schriftsteller, der seine Ethik des religiös inspirierten Sich-Aufopferns auf seine Schwester überträgt, ist nicht bereit, Camille aus ihrer Lage zu befreien.

Die rundliche Verschlossenheit des Paul-Darstellers Jean-Luc Vincent reibt sich fast schmerzhaft mit Juliette Binoches Entäußerungen nackter Seelenpein. Die Darstellerin spielt in „Camille Claudel 1915“ mit geistig behinderten Laien zusammen. Ihre verhalten-expressiven Soloszenen bewegen tief, ebenso die ohne Skript improvisierte Interaktion mit den Partnern. (Was ihre Mitpatienten angeht, schwankt Camille zwischen Abscheu, Fürsorge und Kontaktbedürfnis.)  Binoches Camille, eine Hochbegabte ohne künstlerische Perspektive – sie starb erst 1943 in Montdevergues –, ist ein trauriger Vogel mit zerknickten Flügeln.