Im Westen was Neues

 

 

Dieter Gorny, Sie sind künstlerischer Direktor der Ruhr.2010. Was unterscheidet dieses Projekt von den vorangegangenen europäischen Kulturhauptstadt-Projekten?
Dieter Gorny: Das Spannende ist, dass es nicht eine mehr oder weniger bekannte Stadt ist, die man noch mal versucht durch künstlerische Projekte weiterzuveredeln. Sondern, dass es mit Essen und Umgebung der drittgrößte Ballungsraum in Europa ist. Mit einer mythischen Vergangenheit: Die Region ist für fast alles mitverantwortlich, was wir heute an Industrie haben. Nur dass sie ihre industrielle Identität verloren hat.

In kaum einer anderen Region wird die Bevölkerung schneller älter, weil die Jungen, Qualifizierten abwandern.
Gorny: Ich kenne die Studie. Das hat mich auch geschockt. Die Leute gehen, obwohl es nirgendwo in Europa mehr Museen, mehr Theater, mehr Konzerthäuser gibt. Deshalb ist klar: Das Letzte, was wir brauchen können in der Situation, in der sich die Region befindet, ist Kunst als Beruhigung. Im Gegenteil: Wir brauchen Kunst als Bewegung, Aufbruch, Stimulanz. Wir müssen die enormen ästhetischen Möglichkeiten der Region ausschöpfen: in alten Industriekulissen neue Kunst zeigen und auch langfristig Transformationsprozesse installieren, die gegen den Negativtrend steuern. Auch indem man gezielt nicht subventionierte Kultur ansiedelt und die Kreativwirtschaft fördert.

Herr Boros, genau das ist die Aufgabe in Ihrem neuen Job als Clustermanager Kreativwirtschaft des Landes NRW. Und trotzdem, wenn Herr Gorny sagt, die Leute gehen weg, könnte er auch Sie gemeint haben. Schließlich zeigen Sie Ihre Kunstsammlung in Berlin – und nicht in Ihrer Heimatstadt Wuppertal. Die könnte auch dringend einen Transformationsprozess vertragen.
Christian Boros: Ich bin nicht weggegangen, mein Büro und Arbeitsschwerpunkt sind immer noch dort. Und ich brauche gerade den Wechsel zwischen der Hauptstadt und dieser kulturell sehr reichen Region, die ich einfach mal Rheinland nennen will – die in Bonn anfängt und in Dortmund aufhört und in der ich an einem Tag zum Teil in drei Städten bin und oft spannendere Sachen sehe als in Berlin. Wäre ich nur in Berlin, würde ich mir vorkommen wie auf einer Insel. Ein Gegengewicht zur Hauptstadt ist dringend notwendig, nicht nur für mich persönlich.

Wie meinen Sie das?

Boros: Wenn ich darüber nachdenke, was ich die letzten 20 Jahre gemacht habe, dann habe ich mich immer mit Regionen beschäftigt, die im Umbruch sind. Ich habe im London der frühen 90er angefangen, Damien Hirst zu sammeln. Da war London geprägt von Arbeitslosigkeit, von Leerstand, und die Leute haben in leeren Ladenlokalen Projekte gemacht. Dann stand Berlin im Fokus, Mitte der 90er. Hier das gleiche Prinzip: günstige Mieten, viel Raum und keine fertige Struktur, die einen einengen könnte. Dann ging es für mich weiter nach Warschau – eine kippende Stadt, eine brodelnde Kunstszene, alles wird neu verteilt. Ganz erstaunlich ist ja, dass heute aus London kaum mehr ein attraktiver Impuls kommt, weil es schlichtweg viel zu teuer ist. Gute Kunst kommt heute eher aus Glasgow, einer Industriestadt, für die das Gleiche gilt wie für das Ruhrgebiet.

Sie sehen für Berlin das Schicksal Londons voraus?
Boros: Auf eine Art ja. Es ist vorprogrammiert, dass Berlin irgendwann kippt. Die Kunstszene ist doch schon sehr gesättigt. In Berlin-Mitte ist es den meisten Künstlern, die ich sammle, inzwischen schon zu spießig, zu wohlsituiert. Das ständige Sich-wichtig-Nehmen als Hauptstädter, das schafft einfach keine Energie. Wenn wir nicht ein Gegengewicht zu Berlin haben, wird Berlin selbstgefällig.
gorny: Deinen Künstlern kann ich nur sagen: Kommt ins Ruhrgebiet! Seid dabei, wenn hier etwas Neues entsteht. Wir bauen, baut mit, jetzt könnt ihr noch gestalten, was unfertig ist.

Bis jetzt ist es aber eher so, dass immer noch mehr Künstler, noch mehr Sammler, noch mehr Kulturschaffende nach Berlin gehen.
Boros: Die kommen wahrscheinlich auch nicht mehr zurück. Die bilden jetzt in Berlin das Grill-Royal-Establishment. Aber dank Berlin hat der Westen eine his­torische Chance. Die Platzhirsche sind weg, jetzt kann eine neue Generation ans Ruder, die nun nicht mehr 20 Jahre warten muss, bis die Etablierten wegsterben oder in den Ruhestand gehen. Das kann eine irre Dynamik erzeugen. Wenn ich ein junger Galerist wäre, würde ich meinen Laden jedenfalls nicht in Berlin aufmachen.

Bei aller Sympathie für Ihre Vision: Nach Bochum würden Sie wahrscheinlich auch nicht gehen.
Boros: Von da würde ich auch nicht länger nach Düsseldorf brauchen als von Berlin-Wedding nach Charlottenburg. Wir müssen die Region als Ganzes begreifen, so, wie sich die, die dageblieben sind, nicht mehr als Essener, Düsseldorfer oder Kölner begreifen, sondern immer mehr als Rheinländer.
Gorny: Sie werden sehen, in ein paar Jahren sprechen wir nur noch von einer großen attraktiven Rhein-Ruhr-Metropole, und als solche wird sie auch international wahrgenommen werden.

Bis es so weit ist: Was genau können unsere Leser während der Ruhr.2010 in Sachen Kunst und Architektur erwarten?
Gorny: Als Erstes würde ich „Emscherkunst“ empfehlen. Die Renaturierung dieses ehemals wunderschönen Flusses ist das zurzeit größte Renaturierungsprojekt der Welt und wird von einem außergewöhnlichen Outdoor-Kunstfestival begleitet, welches auf der Emscher-Insel zu sehen sein wird. Künstler wie Jeppe Hein oder Tobias Rehberger schaffen gerade Arbeiten dafür. Dann natürlich das Projekt „2–3 Straßen“ von Jochen Gerz, eine Ausstellung in drei Straßen des Ruhrgebiets, in denen Gerz neue Mieter kostenfrei wohnen lässt, solange sie an einem Buchprojekt mitarbeiten. Und in architektonischer Hinsicht ist der Neubau des Folkwang-Museums von Chipperfield ebenso ein Highlight wie das neue Museum Küppersmühle im Duisburger Innenhafen, gebaut von Herzog & de Meuron. Last but not least sollte man unbedingt das Dortmunder  U besuchen, die ehemalige Union-Brauerei. Ein spektakuläres Industriedenkmal, in das wir mit unserem neu gegründeten Europäischen Zentrum für Kreative Ökonomie einziehen werden. Kaum ein Ort zeigt eindrucksvoller die Möglichkeiten, die die Region denen bietet, die an sie glauben.

Informationen unter: www.ruhr2010.de