Immer schön im Kreis, bis die Füße schmerzen: Die Tate Britain in London zeigt eine Retrospektive des Profiwanderers und Land-Art-Künstlers Richard Long

Es dürfte genau die richtige Zeit für ein Richard-Long-Revival sein. Dieser Pionier der Land-Art hat das Gehen zur Kunstform erhoben. Seit 40 Jahren streift Richard Long durch die Welt und hinterlässt dabei kleine Kreise aus Steinen oder Zweigen, Linien aus Kies oder flach getretenem Gras als Zeichen seiner Anwesenheit und des menschlichen Einwirkens auf die Natur. In den 80er-Jahren war er, neben Gilbert & George, der bekannteste britische Künstler. Doch in den 90ern verschwand er aus dem Blickfeld, verdrängt durch den großen Hype um die Brit-Art. Auch wenn er weiterhin bedeutende Auftragsarbeiten schafft und in den ständigen Sammlungen von Museen vertreten ist, kann eine jüngere Generation mit seinem Namen doch nur wenig anfangen.


Richard Long, 1945 geboren, studierte an der Kunstakademie von Bristol und an der Londoner Saint Martins School of Art. Bereits in jungen Jahren war er ein Star in der internationalen Kunstszene – der Durchbruch gelang ihm 1967 mit „A Line Made by Walking“, einer Spur aus niedergetrampeltem Gras, die sich in gerader Linie durch ein Feld zieht. Die Ideen dieser Land-Art trugen die wichtigsten Konzepte und Strategien ihrer Zeit hinaus in die Natur.
 

Die aktuelle Retrospektive in der Tate Britain versammelt unter dem Titel „Heaven and Earth“ 70 der wichtigsten Arbeiten Longs, von den Anfängen bis zu seinem jüngsten Werk, das erst kürzlich fertiggestellt wurde. Da sind die großformatigen Schlammbilder, die geometrischen Arbeiten aus unterschied- lichen Steinen (Innen- und Außenskulpturen) und schließlich die Wanderungen, ob in Dartmoor oder Japan, festgehalten durch Fotografien und schlichte poetische Texte, in denen Long alles notiert, was er unterwegs gesehen hat. Neben der großen Schau in Schottland vor zwei Jahren ist dies seine erste große Retrospektive in Großbritannien seit 18 Jahren.
 

Sie beginnt sehr schön mit drei großformatigen Schlammbildern, die Long mit bloßen Händen auf die Wand geschmiert und geklatscht hat – faszinierende Arbeiten, die den Eindruck vermitteln, als fahre plötzlich der frische Wind sturmgepeitschter Moore durch die stickige Galerie. In Longs ökologischem Minimalismus steckt viel Kunstgeschichte: Die Textur erinnert an Jasper Johns’ Kreuzschraffuren und Cy Twomblys Drip-Paintings, und in einem Fall ist der Schlamm das gleiche Material, das Picasso für seine Vallauris-Keramiken verwendete.
 

In den nächsten Räumen werden dann Richard Longs klassische Arbeiten aus den 60er- und 70er-Jahren gezeigt. Hier ist ein Künstler seiner Zeit am Werk. Long war übrigens keineswegs der einzige Land-Art-Künstler – sein Zeit- genosse Hamish Fulton hat ebenfalls solche Wanderungen unternommen, und auch die Gartenprojekte und beschrifteten Steine von Ian Hamilton Finlay waren gewiss ein Bezugspunkt. Die Absicht war, eine neue Kunst hervorzubringen, frei von Metaphern und Mythen, die die einfachsten menschlichen Tätigkeiten in visuelle Poesie verwandelt. Die Künstler haben sich auf verschiedene Dinge konzentriert – bei dem einen waren es Fußböden, bei anderen Pflas­tersteine, bei wieder anderen Industriegebäude, bei Long waren es Wanderungen.
 

Jede Wanderung gründet auf einem eigenen Konzept. Da gibt es etwa eine Wanderung zwischen dem Ärmelkanal und dem Bristolkanal. Es gibt schnurgerade Wanderungen durch die kanadische Prärie und eine Wanderung im Uhrzeigersinn durch England. Einmal wandert Long sieben Tage kreuz und quer in einem Kreis von fünfeinhalb Meilen Durchmesser. Auf einer Wanderung listet er alle Naturformationen auf, an denen er vorbeikommt (Wälder, Bäche, Steinhügel), ein andermal notiert er die Geräusche („donnernde Brandung, rauschender Fluss, der sich mausernde Bussard, quiekende Schweine, Regentropfen, die in eine Pfütze fallen, Schneetreiben, der schreiende Esel“).
 

Long ist natürlich ein guter Wanderer: 1000 Kilometer schafft er in 21 Tagen – das entspricht einer Tagesleistung von fast 48 Kilo­metern. Es gibt auch etliche Theorien zu seiner Kunst – Long, heißt es, habe die Dimension der Zeit in die Skulptur eingeführt. Und doch habe ich in jedem neuen Raum der Galerie gehofft, Long werde in einen raschen Laufschritt fallen oder sich vielleicht von Monty Pythons Ministry of Silly Walks inspirieren lassen. Umsonst. Wer nicht gerade ein Ökofreak ist, wird diese Ausstellung wohl ziemlich schnell durcheilen.
 

Verstehen Sie mich nicht falsch – für mich gibt es nichts Schöneres als eine Wanderung auf dem kornischen Küstenweg, in den peruanischen Anden oder in den bayerischen Voralpen. Das Problem sind die Arbeiten, nicht die Wan- der ungen – was in dem Hauptraum mit Longs Bodenskulpturen überdeutlich wird. Es gibt einen großen, schönen Kreis aus weißem Norfolkfeuerstein, einen großen, schönen Kreis aus Alpenbasalt, einen großen, schönen Kreis aus rotem Schiefer und – erraten! – einen Kreis aus Schweizer Felsgestein in Schwarz, Weiß und Violett, ebenfalls groß und schön.
 

Longs Arbeiten sind eindrucksvoll, wenn man sie einzeln in leeren weißen Räumen betrachtet, aber in der Menge sind die Grenzen seines Projekts doch unverkennbar. Nicht nur, dass sich die Formen wiederholen – auch die Botschaft ist immer dieselbe, und sie ist nicht wahnsinnig aufregend. Ausstellungsmacher mögen argumentieren, dass Longs Thema der Mensch in der Natur sei – so wie andere Konzeptkünstler sich auf den weiblichen Körper konzentrieren oder auf den Körper im Verhältnis zur Architektur –, aber sein Werk ist doch eine altmodische, romantische Auseinandersetzung mit dem Erhabenen. Wie der Aquarellmaler John Robert Cozens im 18. Jahrhundert und später William Turner wandert Richard Long durch wilde Gegenden und zeigt die Verlorenheit des Menschen in der Weite der Natur.
 

Heute könnten Longs Arbeiten einen aktuellen Bezug haben. Hätte man in den 70ern vom „CO2-Fußabdruck“ gesprochen, hätten die Leute vermutlich geglaubt, man sei dem Yeti auf die Spur gekommen. Angesichts des Klimawandels könnte diese Freiluftkunst prophetisch sein. Long beschäftigt sich aber nicht mit Umweltproblemen dieser Zeit. Vielleicht plant er ja, die ökologisch am schlimmsten verschandelten Landschaften der Welt zu erwandern oder durch tsunamiverwüstete Gegenden zu stapfen – noch hat er das jedenfalls nicht getan. Seine Arbeit provoziert nicht. Long mag ein großer Wanderer sein, aber leider mangelt es ihm an Ideen.