Schädliche Schönheitsnormen

"Wir müssen den Selbsthass nehmen und ihn gegen die Strukturen richten"

Die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Lechner forscht zu Körpern, die sich gegen Schönheitsnormen wehren. Ein Gespräch über widerspenstige Vorbilder in der Kunst und die Kapitalisierung der "Body Positivity" 
 

Elisabeth Lechner, die Kunstgeschichte ist voll von Körpern, die sich gegen starre Schönheitsideale wehren. Haben Sie eine Lieblingsfigur?

Was ich extrem spannend finde, sind die Darstellungen der Malerin Jenny Saville ...

... die Körper irgendwo zwischen Versehrtheit, Sinnlichkeit und Abstraktion malt.

Ja, das ist für mich ein ästhetisch radikaler Zugang. Ich finde auch toll, dass sie vor allem dicke Körper malt und das auf dem Kunstmarkt wahnsinnig erfolgreich ist. Außerdem werde ich in Interviews ständig mit der altsteinzeitlichen "Venus von Willendorf" konfrontiert, die knapp 30.000 Jahre alt ist – nach dem Motto: "Es gab doch auch früher schon dickere Körper". Mein Interesse liegt aber eher im Zeitgenössischen. Ein Ausgangspunkt meiner Forschung war die Performance "Interior Scroll" der Künstlerin Carolee Schneeman, bei der sie sich einen langen Papierstreifen mit Text aus der Vulva zieht und diesen vorliest.

Warum gerade diese Arbeit?

Ich finde das extrem schlau. Wegen ihrer reproduktiven Organe werden Frauen gesellschaftlich an den Rand gedrängt, Schrift und der öffentliche Raum sind überwiegend Männern vorbehalten. Carolee Schneemann bringt das zum Einsturz, indem sie den Text wie bei einer Geburt aus ihrem Körper holt. Am Anfang meiner Dissertation stand für mich die Frage, was passiert ist, dass solche Positionen und die Idee von widerspenstigen Körpern in die Mainstream-Kultur gekommen sind. Damals in den 60er- und 70er-Jahren haben alle gedacht, dass diese radikalen Feministinnen, die mit Menstruationsblut malten oder ihre Körper dazu nutzten, Ekel und Scham zu thematisieren, wahnsinnig sind. Heute verkauft sich das. Man muss nur an Charlotte Roches "Feuchtgebiete" denken. Das war ein popkulturelles Massenphänomen. Oder die US-Serie "Girls" von Lena Dunham. 

Und, was ist passiert?

Das Internet, der Aufstieg sozialer Medien, popfeministischer Massenaktivismus wie #Aufschrei oder #Metoo und Mainstream-Sichtbarkeit "ekliger" weiblicher Körper im Herzen der Popkultur sind passiert. Diese Entwicklungen sind entsprechend der profitorientierten Plattformen, auf denen sie passieren, notwendigerweise ambivalent. Aber ich glaube, die Debatten, die es zum Beispiel um "Girls" gab, haben vieles ausgelöst. Natürlich sind die Darstellerinnen weniger glatt, normschön und wohlhabend als bei "Sex and The City", aber es sind immer noch vier weiße Frauen aus gut situierten Elternhäusern. Die Kritik an dem Format ist sehr berechtigt. Und trotzdem finde ich die "Body Politics" von Lena Dunham extrem wichtig für die Popkultur. Dort habe ich selten eine so differenzierte Auseinandersetzung mit weiblicher Körperlichkeit gesehen wie bei "Girls". Und seitdem gibt es immer mehr vermeintlich "eklige" Körper im Zentrum der Popkultur. Wenn man dem auf den Grund geht, beschäftigt man sich automatisch mit der "Body-Positivity"-Bewegung, die immer präsenter wird. Es ist ein Thema, das gerade extrem im Fluss ist und ständig etwas Neues hervorbringt.

Ihr Buch "Riot, Don't Diet" trägt den Untertitel "Aufstand der widerspenstigen Körper". Wie macht für Sie diese Widerspenstigkeit aus?

Ich habe eigentlich eine gute Übersetzung für den englischen Begriff unruly gesucht, weil er den Verstoß gegen Regeln beinhaltet. Und mein Ausgangspunkt war der gesellschaftliche Ekel, den es vor bestimmten Aspekten von Körperlichkeit gibt. Es ging mir nicht um Hässlichkeit – das wäre eine ästhetische Kategorie –, sondern um die affektive Komponente des Ekligen. Ein Subjekt erhebt sich über ein anderes und degradiert einen Körper zu einem Ekelobjekt. Damit wird dieser Körper seiner Menschlichkeit beraubt. Der Begriff widerspenstig beschreibt für mich zweierlei: Einerseits werden Menschen in diese Rolle gedrängt, weil andere eine Abweichung von der Norm und damit eine Friktion wahrnehmen, die aber gar nicht intendiert sein muss. Eine Schwarze Frau mit einem Afro wird in bestimmten Kontexten als widerspenstig gelesen, ob sie will oder nicht. Andererseits gibt es auch die bewusste Haltung: "Ja, mein Körper wird an den Rand gedrängt, aber dann müssen wir wohl die Normen ändern". Ich meine also sowohl dieses "Othering" und die Marginalisierung von Körpern als auch das bewusste Angehen dagegen und das Hinterfragen dieser Ideale.


Die Kunst hatte schon immer ein ambivalentes Verhältnis zur Schönheit. Wir lernen durch Bilder, was "schön" ist, gleichzeitig zeigt ein Blick in die Kunstgeschichte auch, wie instabil und unterschiedlich Schönheitsnormen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten sind. Ein hilfreicher Gedanke?

Ja, Schönheitsideale sind immer im Wandel. Und wenn ich von diesen Kategorien spreche, meine ich vor allem Europa und die USA in der Jetztzeit. Ich glaube nicht, dass Menschen überall auf der Welt etwas universell schön finden – und auch die Wissenschaftsdisziplinen kommen zu sehr unterschiedlichen Antworten auf die Frage, was schön ist. Die Positioniertheit ist dabei extrem wichtig. Mein Anliegen ist es, zu zeigen, wie sehr angenommene Schönheitsideale zu einer spezifischen Zeit über Lebenswege von Menschen entscheiden und wie politisch dieses Thema ist. Wir leben in einer zutiefst "lookistischen" Gesellschaft, die Menschen nach dem Äußeren bewertet und je nach Befund auf- oder abwertet. Das fängt bei Noten, Partnerinnen- oder Partnerwahl und Jobvergabe an, führt aber so weit, dass Menschen, die als unattraktiv oder eklig bewertet werden, körperliche Gewalt erfahren und eine schlechtere Gesundheitsversorgung bekommen. Ich will zeigen, wie starr diese Normgitter sind und wie riesig die Ausmaße dieses Problems. Erst, wenn man das akzeptiert, kann man etwas dagegen tun. Und dann kommt auch die Kunst ins Spiel.

Wie zum Beispiel?

Sie führt im Idealfall dazu, dass man eine Reibung erkennt und genauer hinsieht. Ein gutes Beispiel ist die Arbeit der australischen Künstlerin Patricia Piccinini, die gerade in der Kunsthalle in Krems ausgestellt ist. Sie schafft Skulpturen mit hybriden, schrumpeligen Wesen, die auf den ersten Blick eklig erscheinen mögen. Dann sieht man aber, dass es in den Werken eine große Zärtlichkeit gibt, dass es um Fürsorge und care geht. Außerdem sind die Skulpturen visuell extrem wirkmächtig. Das führt dazu, dass es dieses Innehalten gibt. Dass man einen Schritt zurücktritt und gewisse erste Reflexe hinterfragt.

Sie haben eben die Künstlerin Carolee Schneemann angesprochen. Zur Zeit der „Interior Scrolling“-Performance war sie eine junge, schlanke, ziemlich normschöne weiße Frau. In einem Interview kurz vor ihrem Tod hat sie gesagt, dass sie ihren Körper gerade deshalb einsetzen wollte, weil er ideal war und sie nicht von der Bühne gelacht werden würde. Ist sogar das Kritisieren von Körpernormen einfacher, wenn man ihnen entspricht?

Ja, das ist sicher so. Ich merke das bei mir selbst. Ich würde mich mit Kleidergröße Medium bis Large als völlig durchschnittlich bezeichnen. Ich habe als Cis-Frau mit weißer Haut und ohne sichtbare Behinderung viele Privilegien. Wenn ich sage, dass der Body-Mass-Index kompletter Blödsinn ist und nichts über die Gesundheit eines Menschen aussagt, reagieren die meisten Menschen interessiert. Aha, das sagt die Kulturwissenschaftlerin. Wenn eine dicke Frau dasselbe sagt, bekommt sie Hasskommentare. Die Ökonomien der Sichtbarkeit, die unsere Medienwelt durchziehen, treffen auch hier zu. Es ist ja kein Wunder, dass sich unter dem Hashtah #Bodypositivity in den beliebtesten Beiträgen vor allem junge weiße Frauen finden, die sich nach vorne lehnen und gerade mal eine kleine Bauchfalte zusammenkriegen. Solche Bilder werden von den Algorithmen bevorzugt, weil Werbelogiken dahinter stehen. Die Bilderplattformen, auf denen wir unseren Aktivismus ausspielen, sind davon durchzogen. Es ist kein Zufall, warum schwarze Frauen oder queere Menschen viel weniger gesehen werden. Menschen mit Behinderungen haben es in den sozialen Medien extrem schwer, die Algorithmen ignorieren sie komplett.

Ist das ein Problem der Plattformen, oder wird nicht nur ein Phänomen verstärkt, das es schon vorher gab?

Es ist schon so, dass der Schönheitsdruck durch die sozialen Medien steigt, weil es viel mehr Möglichkeiten der Selbstvisualisierung gibt und erwartet wird, dass auch das Innere perfekt artikuliert und transportiert wird. Gleichzeitig passiert aber auch der Widerstand dagegen in den sozialen Medien. Es gibt so viele tolle Accounts, die sich differenziert mit dem Thema auseinandersetzen und denen Millionen Menschen folgen. Eines meiner Lieblingsbeispiele ist Megan Jayne Crabbe alias @Bodyposipanda, die es schafft, bunte, superhappy Videos zu drehen, in denen man einen schwabbeligen Bauch sieht, und gleichzeitig ihre Kämpfe als anorexia survivor und die intersektionale Verwobenheit von Diskriminierung zu erklären. Aber die Erkenntnis, dass optische Merkmale Aktivismus beeinflussen, reicht viel weiter zurück.


Wirkt Aktivismus von "schönen" Menschen stärker?

Schon unter den ganz frühen Feministinnen gab es die Einsicht, dass sie ihre Optik strategisch für die Kämpfe einsetzen müssen, die sie führen. Anfang des 20. Jahrhunderts galt übermäßige Behaarung im europäischen Raum als anstößig, sogar als Zeichen für Kriminalität. Genauso wurden dickere Menschen als unrestrained, also unmäßig abgewertet. Das Stigma um Körperbehaarung und Gewicht hat sich parallel herausgebildet. Das haben auch schon die Sufragetten der ersten Welle rezipiert. Es hieß immer: "Diesen wilden, irrationalen Frauen können wir nicht das Wahlrecht geben. Sie haben gewusst, um ernst genommen zu werden, mussten sie besonders ideal aussehen: ordentlich angezogen, enthaart, weiß, dünn. Dasselbe gilt für die zweite Welle der Feministinnen. Gloria Steinem, ohne ihr Arbeit schmälern zu wollen, hat die mediale Öffentlichkeit auch deshalb dominiert, weil sie optisch hineingepasst hat und undercover beim "Playboy" arbeiten konnte. Women of Color in der Bewegung hatten bei Weitem nicht diese Sichtbarkeit. Da gibt es großen Reflexionsbedarf auch innerhalb der Szene. Das ganze ist höchst widersprüchlich. Eigentlich kämpft man für kollektive Veränderung, trotzdem werden einzelne Personen herausgehoben und idolisiert.

Interessant finde ich, dass auch diese Idole extrem hart beurteilt werden. Das jüngste Beispiel ist vielleicht das Billie-Eilish-Cover für die "Vogue". Die Sängerin hat sich immer dagegen verwahrt, sexualisiert zu werden und wurde mit weiten Baggy-Klamotten bekannt. Auf dem Cover-Foto trägt sie pünktlich zur Veröffentlichung ihres neuen Albums ein Korsett und einen Latexrock und erinnert an klassische Pin-up-Ästhetik, sagt aber im Interview, dass es sich befreiend anfühlt und ihre eigene Entscheidung ist. Für manche hat sich das offenbar wie ein Verrat angefühlt. Dabei könnte man auch sagen, dass sich Trainingsanzüge und Korsagen nicht ausschließen und man zwischen verschiedenen Inkarnationen wechseln kann.

Da kann man nur die Autorin Roxane Gay zitieren: Immer wenn es eine Frau schafft, sich in einem patriarchalen System der Medienöffentlichkeit widerständig zu positionieren und sich gegen Zwänge stellt, führt ein Bruch in der "Celebrity Persona" zu extremer Enttäuschung. Nach dem Motto: Jetzt haben wir sie auch verloren. Gay sagt, dass wir dazu neigen, einzelne Idole mit einer riesigen Verantwortung zu beladen und auf ein Podest zu heben - und wenn ein vermeintlicher Fehltritt passiert, stoßen wir sie wieder herunter. Hier zeigt sich aber auch, dass eine junge Frau, die im Rampenlicht aufgewachsen ist, keine Chance hat, nicht auf ihren Körper reduziert zu werden. Niemand hat das Interview dazu gelesen, dabei ist das wirklich gut. Sie kämpft darum, dass ihre Stimme gehört wird


Die Frage, die dabei mitschwingt, ist ja die nach der freien Wahl - also kann man selbst bestimmen, wie man sich schön findet und präsentieren will, oder ist nicht schon diese Wahrnehmung von den äußeren Einflüssen und Normen geprägt?

Das ist eine Kernfrage. Diese "Choice-Feminismen" lassen sich wunderbar propagieren: Es ist egal, wie du dich präsentierst, du kannst es selbst entscheiden. Menschen mit marginalisierten Körpern wissen aber, dass es absolut nicht egal ist. Es gibt in vielen Bereichen sehr genaue Normen, wie viel Schönheitsarbeit geleistet werden muss, was "zu viel" und was "zu wenig" ist. Es ist so gut wie unmöglich, es richtig zu machen. Und als Frau oder queere Person im Patriarchat kann man es eben auch nicht richtig machen, weil das System und seine Schönheitsindustrie daran interessiert ist, diese Menschen damit beschäftigt zu halten, ihren Körper nach geltenden Normen zuzurichten und dabei auch noch viel Geld auszugeben, obwohl sie weniger verdienen. Außerdem produziert die Schönheitsindustrie immer neue Makel, die behoben werden müssen. Es werden immer neue Körperregionen beschämt und als eklig oder unzureichend markiert, damit sie mit Produkten optimiert werden können. Deshalb ist das mit der freien Wahl so komplex. Marginalisierte Menschen wissen, dass ihre Entscheidungen Konsequenzen haben, gleichzeitig ist der einzige Weg zur Selbsterhaltung, einen Dreck auf die Normen zu geben, weil man es eben nicht richtig machen kann. 

Inzwischen gibt es in der Werbung auch das gegenteilige Narrativ: Du bist schön, wie du bist, aber du kannst dir selbst noch mehr Liebe geben, wenn du diese Bodylotion kaufst. Der Konzert "Dove" wirbt gerade mit einer Kampagne gegen Bodyshaming für Hautpflegeprodukte. Es gibt "inklusive Duschgelflaschen", die für verschiedene Körperformen stehen sollen.

Das Perfide ist, dass natürlich auch die Body-Positivity-Bewegung kapitalisiert wird und diese Produkte mit vermeintlich "exotischen" Körpern beworben werden, die oft aber nur minimal von den geltenden Normen abweichen. Auch der Aktivismus wird vereinnahmt. Und auch die Grenzüberschreitung ist natürlich ein Privileg. Eine einzelne Grenzüberschreitung scheint inzwischen weitgehend akzeptiert zu sein: Wenn eine weiße wunderschöne Frau ohne Behinderungen etwas dicker ist: ok. Wenn jemand so Cooles wie Madonnas Tochter Lourdes Achselhaare hat: total edgy. Wenn aber eine dickere schwarze Frau Achselbehaarung zeigt oder eine Transfrau keine Modelmaße hat, geht das gar nicht. Es ist ein ständiges Balancieren, was als begehrenswert vermittelt werden kann. Von echter Vielfalt sind wir noch meilenweit entfernt.


In Ihrem Buch kommen Sie über die Autorin Laurie Penny auch auf den Philosophen Jean Baudrillard zu sprechen. Der unterscheidet zwischen erotischem Kapital und der radikalen Intimität, die nicht vereinnahmt werden kann. Gibt es diesen nicht kapitalisierbaren Kern in diesem Zusammenhang?

Diese klare Trennung finde ich schwierig, aber ich finde Laurie Penny hat recht, wenn sie sagt, dass eine Frau im öffentlichen Raum gern gesehen ist, wenn man mit ihrem Körper oder fragmentierten Teilen davon ein Produkt oder eine Dienstleistung bewerben kann. Wenn die selbstbestimmte weibliche Sexualität ins Spiel kommt, sieht das schon ganz anders aus. Wenn es um Körper geht, würde man denken, dass es zum Beispiel bei Ausscheidungen und Körperflüssigkeiten einen Bereich gibt, der sich nun wirklich nicht vermarkten lässt. Da kommt wieder die Kategorie Ekel ins Spiel, die mich so interessiert. Und trotzdem ist zum Beispiel der Bereich des Menstruationsaktivismus, wo es um den Abbau von Stigmata gegenüber Menstruationsblut und Themen wie Periodenarmut und Steuersenkungen für Hygieneartikel geht, maßgeblich von Unternehmen geprägt. Ich glaube, dass der Arm dieser Kapitalisierung extrem weit reicht, aber hoffe auch, dass man es schafft, sich auch außerhalb der großen Bühnen Räume zu bewahren, in denen echter Austausch möglich ist. Es geht ja nicht nur um Repräsentation um Sichtbarkeit, sondern um tiefer gehende Verteilungsfragen und Teilhabe. Das ist weniger sexy und findet in den Poplogiken keinen Platz. Die alleinerziehende 45-jährige Mutter kommt da eher selten vor.

Als Antwort auf die Vereinnahmung der "Body Positivity" hat sich auch die Idee der "Body Neutrality" etabliert, die möglichst ganz von den Einsortierungen nach Äußerlichkeiten weg will und den Körper eher als Werkzeug mit unterschiedlichen Voraussetzungen annimmt. Ein guter Ausweg?

Dazu muss man kurz sagen, dass die historische radikale "Body-Positivity"-Bewegung nichts mit der propagierten ständigen Selbstliebe zu tun hat, die uns heute oft begegnet. Das ist eine extreme Verzerrung. Die Bewegung hat ihren Ursprung in der Fat-Acceptance-Bewegung der 1960er- und 70er-Jahre in der USA, bei der es um lebensgefährliche strukturelle Diskriminierungen ging. Teilweise wurden bei dicken Menschen nicht mal Tumore erkannt, weil alle gesundheitlichen Probleme immer nur auf das Gewicht zurückgeführt wurden. Diesen Hintergrund sollte man im Kopf behalten. Da ich viel mit Affekttheorie, zum Beispiel von Deleuze, gearbeitet habe, finde ich die Verschiebung vom Sehen aufs Fühlen aber sehr produktiv.

Das heißt?

Das hieße, Körper als Werkzeuge zur Weltwahrnehmung anzunehmen, die soziale Kontakte und Sinnesreize ermöglichen. Dazu kann man auch viel von der Kunst lernen, die sehr unterschiedliche Geschichten von Körperwahrnehmung erzählen kann. Von unterschiedlichen Perspektiven können alle nur profitieren. Ultimativ bin ich eine Verfechterin der "Body Neutrality". Aber solange wir in einer "lookistischen" Gesellschaft leben, in der Lebensläufe von Menschen derart von ihrem Aussehen bestimmt werden, lohnt es sich, mit radikaler "Body Positivity" für einen inklusiveren Schönheitsbegriff zu kämpfen. Und sich gleichzeitig dem eigenen Körper zuzuwenden und eine Art Körperkompetenz zu entwickeln, wie zum Beispiel die Philosophin Bettina Stangneth in ihrem Buch "Sexkultur" schreibt.


Es wird immer wieder klar, wie komplex das Thema ist und wie es alle Lebensbereicht durchdringt. Wie sieht dann die "Revolution" oder der "Aufstand" aus, von dem Sie im Buch sprechen?

Ich benutze diese Begriffe, weil es mir um die systemische Komponente geht. Und weil das empowerment Einzelner nicht reichen wird. Es braucht Solidarisierung. Wenn wir den Selbsthass nehmen könnten, den wir alle manchmal fühlen, und ihn gegen die Strukturen richten, wäre das schon revolutionär.