Müll-Künstler Justin Gignac

"Es sagt viel aus, was wir wertschätzen und was wir wegwerfen"

Justin Gignac sammelt seit 25 Jahren Müll aus den Straßen von New York und arrangiert ihn in Plastikwürfeln zu Kunstwerken. Ein Gespräch über den Wert der Dinge und die Reste einer Stadt
 

Justin Gignac, wie kommt man auf die Idee, Müll in Würfel zu packen und als Kunst zu verkaufen? War das ursprünglich als Scherz gedacht?

Während meines zweiten und dritten Jahrs am College machte ich im Sommer 2000 ein Praktikum bei MTV. Eines Tages diskutierte ich dort mit einem Kollegen über die Bedeutung von Verpackungsdesign. Er war der Meinung, es sei nicht wichtig, ich war vom Gegenteil überzeugt. Um ihm zu beweisen, dass ich recht habe, wollte ich etwas verpacken und schließlich verkaufen, das wirklich keiner will: Müll. Mit dieser Idee lief ich ein Jahr herum, bis ich sie im Sommer 2001 umsetze. In meinem kleinen Zimmer im Studentenwohnheim stellte ich zehn Würfel her, auf die ich "New York City Garbage" sprayte und das Datum von dem Tag stempelte, an dem ich den Müll gesammelt hatte, um daraus Sammlerstücke zu machen. Ich ging dann auf den Times Square und sagte zu den Menschen: Euer Müll ist scheiße im Vergleich zu unserem! Ich fasse Müll an, damit ihr es nicht tun müsst! 

Wie war die Reaktion?

Zunächst versuchte ich, die Würfel für zehn, schließlich für fünf Dollar zu verkaufen. Die Leute fanden die Idee witzig, kauften aber nichts. Erst spätabends, nach sieben oder acht Stunden, kam ein älterer Herr aus Ecuador, der kein Englisch sprach, und kaufte mir einen Würfel ab.

Wie ging es weiter?

Die 20 Blocks nach Hause bin ich quasi gehüpft. Am nächsten Tag zog ich mit frischem Selbstvertrauen wieder los und verkaufte weitere vier oder fünf Kuben. Kurz darauf erstellte ich eine Website und ging sozusagen viral, bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Die Lokalpresse hat früh über mich berichtet, darauf folgten Anfragen aus der ganzen Welt. Ich kam an einen Punkt, an dem ich mit der Nachfrage nicht mehr mithalten konnte. Also erhöhte ich die Preise von zehn auf 25 Dollar, und sie verkauften sich immer noch genauso gut. Ich versuchte erneut, die Verkäufe einzudämmen, und verdoppelte auf 50 Dollar für normalen Müll und 100 für Limited Editions. 

Und?

Sie verkauften sich weiterhin wie zuvor. Als die Würfel zehn Dollar kosteten, hielten die Leute es für einen lustigen Scherz. Bei 25 war es ein cooles Souvenir. Und als sie 100 kosteten, wurden sie plötzlich als Kunst angesehen. Es ist verrückt, wie sich die Wertschätzung verändert, wenn man den Preis verändert.

Wie genau gehen Sie beim Sammeln des Mülls vor?

In der Regel ziehe ich spätabends los, wenn die Stadt am schmutzigsten ist, und meistens bin ich in Manhattan unterwegs, wo ich 18 Jahre lang gelebt habe. Ich gehe nicht an Mülltonnen, sondern sammele den Müll direkt von der Straße, wo genug rumliegt. Ich wähle nichts, das irgendwie nass oder eklig ist, was im Würfel verrotten könnte. Ich habe außerdem einen starken Würgereflex. Damit bin ich eigentlich im falschen Geschäft. Ich nehme dann einen Sack voller Müll mit in mein Studio, wo ich sortiere. Bei den Kompositionen gebe ich mir viel Mühe, damit sie schön aussehen. Ich möchte den Leuten schließlich das Gefühl geben, dass sie etwas Besonderes bekommen. Typischerweise habe ich ein Kernstück, um das ich andere Elemente arrangiere. Das sind etwa die To-Go-Becher im griechischen Stil, auch wenn die inzwischen leider sehr selten geworden sind, Babyschuhe oder Handschuhe, die ich dann zum Beispiel mit Polizeiabsperrband anordne. Es sind wie kleine Dioramen mit eigener Story.

Welche Art von Müll interessiert Sie?

Für mich ist guter Müll, wenn er interessant anzusehen ist. Es geht also um Farbe, um Textur. Ich liebe es auch, Dinge zu entdecken, die eine persönliche Geschichte erzählen. Als ich das letzte Mal unterwegs war, habe ich eine Liebesbotschaft auf einem Post-it gefunden. Und vor einigen Jahren, es muss 2010 gewesen sein, bin ich in der West 4th Street auf einen aufgerissenen Müllsack gestoßen. Darin waren lauter alte Schwarz-Weiß-Fotos, diese kleinen Fotostreifen, mit Bildern aus den 1940ern bis 1960ern. Die zeigten zum Beispiel ein Kind, das auf der Tragfläche eines Kleinflugzeugs saß oder auf einem Pferd oder vor dem Weihnachtsbaum. Jemand muss gestorben sein und die Wohnung der Person wurde wohl ausgeräumt. Die Fotos wären auf einer Mülldeponie gelandet. Ich habe alle mitgenommen und in Würfel gepackt, um sie lebendig zu halten. Sowas ist mir wirklich wichtig. Ich liebe es, wenn ein Stück Müll im Leben von Menschen und ihren New-York-Geschichten eine Rolle spielt.

Bekommen Sie auch konkrete Anfragen, zum Beispiel: "Ich hätte gerne Müll aus der West 98th Street" oder "Ich möchte East-Village-Müll?"

Ja, manchmal bekomme ich spezielle Wünsche, kürzlich etwa eine E-Mail von jemandem, der Müll von dem Ort haben wollte, an dem er und sein Partner ihr erstes Date hatten. Ich mache auch mehr Limited Editions. Vergangenen Oktober zum Beispiel von der Parade des Basketballteams New York Liberty, das die WNBA gewonnen hatte, von der Silvesterfeier am Times Square - oder als die gleichgeschlechtliche Ehe in New York legalisiert wurde. Ich überlege mir, welche Geschichten ich erzählen, welche Momente ich festhalten möchte. Die Kuben sind wie kleine Zeitkapseln mit sehr unterschiedlichem Müll. Ich möchte auch mehr in die anderen boroughs gehen und Würfel mit Queens-, Bronx- oder Brooklyn-Müll machen. New York City ist bekannt dafür, sehr dreckig zu sein. Aber wir sind auch stolz darauf – es ist ein Wesenszug unserer Stadt.

Wir haben die ganz große Frage bisher nur angedeutet: Was ist in Ihren Augen überhaupt Kunst? In welchem Moment wird aus dem Müll ein Kunstwerk?

Ja, das ist eine verdammt große Frage. Es liegt ein bisschen an der Ausführung. Anfänglich ging es um die Verpackung, die den Müll zu einem Sammlerstück macht. Aber meine Kunst funktioniert erst wirklich bei der Transaktion, die beweist, dass das Verpackungsdesign auch erfolgreich war. Der Kaufvorgang ist also essenziell für die Kunst. Ich möchte außerdem, dass die Würfel ästhetisch ansprechend und sammelwürdig gestaltet sind. 

Worauf achtet Ihre Sammlerschaft?

Manche Leute brauchen Zeit bei der Auswahl eines Würfels, je nach Kernstück, weil sie sagen: "Oh, ich trinke jeden Tag Starbucks-Kaffee, ich liebe aber auch Cola Light." Bei diesen Entscheidungen sind sie hin- und hergerissen. Die Menschen haben eine intime Beziehung zu Marken. Sie sind Teil ihrer Geschichte. Es ist interessant, was man darüber alles erzählen kann: über Konsumismus und Kapitalismus, über die Fragen, worauf wir Wert legen und was wir wegschmeißen. Ich bin im Grunde Teil der Luxusgüter-Industrie, weil ich Luxusmüll herstelle. Diese Dualitäten faszinieren mich. Ich nehme, was auf der Mülldeponie gelandet wäre, was eigentlich dreckig und ekelhaft ist, aber dank der makellosen Präsentation auf Schreibtische oder in Regale gestellt wird.

Sie haben vor fast 25 Jahren mit "New York City Garbage" angefangen, dazwischen aber auch eine längere Pause gemacht…

Ja, im Jahr 2012 habe ich damit aufgehört, weil ich meine eigene Firma gründet habe und einfach nicht mehr die Zeit dafür hatte. Ich wurde aber die ganze Zeit immer wieder gefragt: "Hey, wann machst du wieder 'New York City Garbage?'" Irgendwann ließ ich mich überzeugen. Vergangenen Dezember habe ich 50 Würfel für je 100 Dollar gemacht und trotz des Preises alle innerhalb von 90 Minuten verkauft. Es macht Spaß zu sehen, dass diese Idee immer noch Anziehungskraft hat. Und New York ist in dieser Zeit auch nicht sauberer geworden. 

Wie sind die weiteren Pläne?

Als Nächstes bringe ich "Pocket Garbage" im Kleinformat heraus. Oft habe ich nur eine bestimmte Anzahl an Kernstücken für die Würfel, und so kann ich mehr kleine Elemente verwenden und werfe sogar noch weniger weg. Eins gefällt mir besonders gut. Darin sind Splitter vom zerbrochenen Spiegel eines Busses, der an der Lower East Side parkte. Das Werk sieht aus wie eine kleine Schachtel voller Diamanten.

Haben Sie für "New York City Garbage" bereits Anerkennung von der klassischen Kunstwelt bekommen?

Ich war schon in einigen kleineren Galerien und Gruppenausstellungen. Aber ich träume davon, eines Tages eine riesige Ausstellung in einer großen Lagerhalle zu haben und darin den Stadtplan von New York City nachzubilden. Man soll durch den Müll von allen fünf boroughs laufen können und die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Gegenden entdecken. Und ich würde gerne ins MoMA kommen. Das ist natürlich ein langfristiges Karriereziel, für das ich viel tun müsste. Im Moment würde ich mich mit dem MoMA Design Store zufriedengeben.