Filmemacherin Laura Poitras

"Wir leben in einer Zeit, in der die Wahrheit umkämpft ist"

Laura Poitras
Foto: © Jan Stürmann

Laura Poitras

Oscarpreisträgerin Laura Poitras dokumentiert Infrastrukturen der Überwachung. Nun ist ihre Arbeit in zwei Berliner Ausstellungen zu sehen. Ein Gespräch über Moral und Museen, aktivistische Kunst und Verschwörungstheorien

Wenn Künstler und Künstlerinnen Biennalen boykottieren und Museumsvorstände zurücktreten: Ist das ein Zeichen, dass Kritik wirkt? In Berlin widmen sich jetzt gleich zwei Ausstellungen der aktivistischen Kunst. Das Haus der Kulturen der Welt stellt die Arbeit des Recherchekollektivs Investigative Commons vor, der Neue Berliner Kunstverein (N.B.K.) zeigt Videos und Installationen der Pulitzer- und Oscarpreisträgerin Laura Poitras, die mit dem Dokumentarfilm "Citizenfour" über den NSA-Whistleblower Edward Snowden bekannt wurde. Sie hat mit dem New Yorker Videokünstler Sean Vegezzi Infrastrukturen der Überwachung dokumentiert, und mit dem Kollektiv Forensic Architecture hat sie sich einen Hersteller von Cyberwaffen vorgenommen. Poitras und Vegezzi sprechen im Interview über Verantwortung und Verschwörungen, Museen und Moral.

Laura Poitras, Sean Vegezzi, ich würde gerne mit dem Film "Triple Chaser" von 2019 beginnen. Jenes Jahr markierte einen Wendepunkt in der Kunstwelt. Denn der Sackler Trust – der viele Kultureinrichtungen auf der ganzen Welt gesponsert haben – wurde scharf kritisiert, weil er eine Verbindung zu der Firma hat, die für die Opioid-Krise in den USA mitverantwortlich gemacht wird. Im gleichen Jahr sprachen sich Künstlerinnen und Künstler gegen Warren B. Kanders aus, der im Vorstand des Whitney Museum saß. Er ist CEO von Safariland, einer Firma, die unter anderem Tränengas produziert. Bricht ein Zeitalter an, in dem Mäzene zur Verantwortung gezogen werden?

Laura Poitras: Es gibt natürlich mit Künstlern wie Hans Haacke eine lange Geschichte der Institutionskritik. Aber ich denke, dass sich da gerade etwas bewegt hat.

Die Whitney Biennale von 2019 wurde als tear gas biennial bekannt. Sie haben daran auch teilgenommen, gemeinsam mit dem Recherchekollektiv Forensic Architecture. Wie sah Ihre Kritik aus?

LP: Forensic Architecture war 2019 eingeladen, an der Biennale teilzunehmen. Dann schrieb das Museumspersonal einen offenen Brief, in dem sie ihr Unbehagen über Kanders und seine Firma ausdrückten. Die Künstlerinnen und Künstler mussten entscheiden, wie sie sich dazu verhalten. Damals war ich gerade in London und habe mit Eyal Weizman, dem Gründer von Forensic Architecture, über eine Zusammenarbeit gesprochen. Zusätzlich zu einer Videoarbeit hat das Kollektiv dann noch ein KI-System entworfen – einen Algorithmus zum maschinellen Lernen – , der Tränengasbehälter von Safariland in Videos und auf Bildern im Internet erkennen kann. Aber man muss sich auch klarmachen, wie viele verschiedene Gruppen noch daran beteiligt waren, dass Kanders schließlich den Vorstand verließ. Etwa 100 Mitarbeiter des Museums haben viel riskiert, nachdem der Einsatz von Safariland-Tränengas an der US-mexikanischen Grenze bekannt wurde. Die Organisation Decolonise This Place protestierte jede Woche, außerdem boykottierten viel Künstlerinnen und Künstler die Biennale.

Sean Vegezzi: Als er fragte, ob jetzt ein neues Zeitalter anbreche, und ob Künstlerinnen und Künstler jetzt offener politisch werden – Laura, mich würde interessieren, was du darüber denkst.

LP: Ich würde auf die Fotografin Nan Goldin und ihren Aktivismus verweisen. Es gibt ja Rechenschaft nicht nur im juristischen Sinne, sondern auch in kulturellen Räumen. Die Teilnahme bestimmter Personen ist unhaltbar geworden, wenn zum Beispiel die Sackler-Familie eine Geburtstagsparty im Metropolitan Museum in New York schmeißen will, geht das eben nicht. Ich denke, das hängt mit Nans Arbeit in den vergangenen Jahren zusammen. Sie wollte sich äußern und  hat dabei sehr direkt über ihre eigene Abhängigkeit von Opioiden gesprochen. Institutionen, die ihre Kunst sammeln, müssen sich der toxischen Philanthropie stellen. Das Ergebnis: Die meisten Institutionen lehnen Sackler-Geld jetzt ab, und viele haben den Namen der Familie von ihren Bauten entfernt.

Toxische Philanthropie ist ein interessanter Begriff. Die meisten Künstlerinnen und Künstler würden sich ja ziemlich unwohl damit fühlen, wie manche Mäzene ihren Lebensunterhalt verdienen. Aber trotzdem muss das Geld von irgendwo kommen, und so entsteht diese seltsame Symbiose. Kunstschaffende bekommen die Gelegenheit, Kritik zu üben. Die Mäzene lassen das auch zu, vielleicht fühlen sie sich damit sogar moralisch überlegen. Möglicherweise liegt da der Unterschied zur früheren Institutionskritik: Sie zeigt jetzt Wirkung.

LP: Als Hito Steyerl einmal zur Sackler Gallery in London befragt wurde, sagte sie, das sei, als wäre man mit einem Serienmörder verheiratet. Es besteht immer die Gefahr, dass Institutionen Kritik entpolitisieren, und die Mächtigen haben die Möglichkeit, Kritik zu absorbieren.

Dass sich Ihre Interessen mit denen von Forensic Architecture überschneiden, ist nicht überraschend. Wie kam es zu der Kollaboration?

LP: Forensic Architecture hat ein Symposium im Institute of Contemporary Arts in London organisiert. Daran habe ich teilgenommen. Wir teilen das Interesse daran, wie empirische Analyse zu einer Kritik an großen System wird. Die Agentur arbeitet interdisziplinär, das können Sie auch in der Ausstellung "Investigative Commons" im Haus der Kulturen der Welt sehen. Die NSO-Untersuchung zum Beispiel besteht aus verschiedenen Teilen und Kollaborationen.

Bei dem Projekt "Terror Contagion" geht es um die NSO Group, eine Firma, die Cyberwaffen produziert. Also Software, die es den Klienten erlaubt Bürger, Dissidenten und Journalisten auszuspionieren. Ursprünglich war das Internet eine Erfindung des Militärs, und jetzt beauftragen Staaten eine private Firma, um diese Struktur zu benutzen. Das ist doch irgendwie folgerichtig, oder?

LP: Das Internet hat aber auch eine dezentrale Infrastruktur, und es bietet eine Menge Potenzial für Autonomie. Nur hat sich das Netz unglücklicherweise seit seinen frühen Tagen sehr verändert. Die Bemühungen um einen freien Austausch wurden zunehmend erschwert, kommerzialisiert und überwacht. Trotzdem ist es immer noch ein mächtiges Werkzeug, das die Kommunikation und Organisation gegenüber den Mächtigen verändert hat.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

LP: Die "Black Lives Matter"-Bewegung in den USA gäbe es ohne das Internet nicht. Die Massenmedien haben nicht von Anfang an über die Polizeimorde an People Of Color berichtet. Nur allmählich mussten sie das tun, denn die Bürger selbst haben Bilder veröffentlicht und sich organisiert.

Wenn Sie das so sagen, erinnert mich das an den Arabischen Frühling, der ohne Twitter vielleicht so nicht möglich gewesen wäre. Aber dann musste Skype die Chatverläufe den jeweiligen Regierungen aushändigen.

LP: Wenn diese Plattformen private Firmen sind, dann kann die Regierung darauf auch zugreifen.

SV: Interessanterweise stellt man sich das Internet als öffentlichen Raum vor. Aber der gehört ja privaten Firmen. Deswegen ist es so wichtig, zu einem freien Open-Source-Modell überzugehen, also einem öffentlichen Raum, der wirklich der Öffentlichkeit gehört. Nur gibt es eben große finanzielle Anreize, das in den Händen von Firmen zu lassen.

Aber ich habe schon das Gefühl, dass viele Menschen sich von den Sozialen Medien verabschieden.

SV: Gerade nach dem letzten Sommer, vor allem in New York, haben viele neu über Instagram nachgedacht und sich gefragt, ob das ein gutes Ausdrucksmittel für Gefühle und Gedanken ist. Manche sind mit den Ordnungsmächten in Konflikt geraten – wegen ihrer Posts – und haben deswegen die Sozialen Medien weniger genutzt. Privatsphäre und Sicherheit stehen wieder hoch im Kurs.

Die Frage ist ja auch, wieviel Komplexität sich in einem Instagram-Post abbilden lässt. Und in ihrer beider Arbeit spielt das eine wichtige Rolle, besonders bei der Reihe "Edgelands", für die Sie mit Drohnen geheime Orte des Polizeiapparats und der Überwachungsinfrastruktur in New York filmen. Darunter ein Gefängnisschiff, eine Abhörstation und eine Insel, wo Sträflinge Verstorbene beerdigen, die sich kein Begräbnis leisten können. Die Filme sind gespenstisch und schön.

SV: Schön, dass Sie das so sehen.

Wenn ich mir "Anarchist" hingegen ansehe, eine weitere neue Arbeit, wo Sie Nachforschungen zu bewaffneten Drohnen angestellt haben, sehe ich nichts, was ich unmittelbar verstehe. Da brauche ich viele Erklärungen. Aber die Videos, bei denen Sie beide kollaborieren, funktionieren sofort. Und dann gibt es noch die Zusammenarbeit mit Forensic Architecture, die mit einer Erzählstimme arbeiten. Ganz so, als würden Sie mit unterschiedlichen Graden der Transparenz und Opazität arbeiten. Wie wählen Sie das Format?

LP: Die Methode hängt von den Dokumenten, dem Ausgangsmaterial ab. Bei "Anarchist" habe ich wieder mit den Enthüllungen von Edward Snowden gearbeitet und dabei nicht nur nach den News gesucht, sondern nach ihrer Bildsprache. Der Journalist Henrik Moltke – mit dem ich arbeitete – und ich haben die Daten befragt, und dann haben uns die abstrakten Bilder interessiert. Den Kontext müssen Sie dann nachlesen. Aber das ist in meiner Arbeit eher die Ausnahmen. Das Gefängnisschiff in "Edgelands: VCBC" ist eine dystopische Architektur, und mir ging es darum, das Video auf zwei Elemente zu beschränken: das Bild und die Stimme der Macht, das heißt interne Funksprüche der Gefängniswärter.

SV: Die Frage nach Transparenz und Opazität ist doch superinteressant. Forensic Architecture legt alles offen, skelettartig. In der Ausstellung im Neuen Berliner Kunstverein gibt es die Balance: alles zeigen oder fast nichts wissen. In "Edgelands: VCBC" sehen wir das Schiff nie von innen. Wir wissen fast nichts.

LP: Für mich ist die Frage, wie sich diese Materialien übersetzen lassen, sodass sich eine emotionale Verbindung gibt.

Die hat man, aber eine Katharsis gibt es bei Ihren Filmen am Ende nie.

LP: Katharsis finde ich anziehend und abstoßend zugleich. Wenn man Geschichten erzählt, steckt darin schon immer diese Gefahr, dass man am Ende fein raus ist. Sie haben das Gefühl, dass sie alles durchgearbeitet haben, nur hat sich nichts geändert. Bei "Citizenfour" wollten wir nicht mit einem Abschluss enden.

Ich habe mir "Citizenfour" noch einmal angesehen und festgestellt, wie viel sich seit 2014 verändert hat. Der einflussreichste Whistleblower heute ist nicht Edward Snowden, sondern der Verschwörungskult QAnon, bei dem unklar ist, wer dahinter steckt. Die Narrative, derer sich die Q-Jünger bedienen, ähneln denen der Whistleblower Mitte der 2010er. Die Geschichte ereignet sich zweimal, so scheint’s. Haben wir einmal die Tragödie gesehen, und erleben wir jetzt die Farce?

LP: Interessant! Aber ich würde schon eine Lanze brechen für evidenzbasierte Informationen. In "Citizenfour" geht es um massenhafte Überwachung, und ich habe die Dokumente, das zu beweisen.

Klar, Ihre Recherche unterscheidet sich ja auch von Verschwörungsmythen.

LP: Forensic Architecture und ich, wir arbeiten mit Blick für Details und anhand von Beweisen daran, Gewalt zu verstehen. Bei meinen Filmen zeige ich Personen, die gegen Gewalt angehen, und es sind Dokumente wirklicher Ereignisse. Zum Beispiel die Aufnahmen vom Gefängnisschiff: Sie werden nicht von Schauspielern verlesen, das sind echte Menschen, die darüber sprechen, mit Tränengas gegen die Insassen vorzugehen. Aber es stimmt schon, wir leben in einer Zeit, in der die Wahrheit umkämpft ist.

Die Ausstellung "Circles" ist noch bis zum 8. August im Neuen Berliner Kunstverein zu sehen. "Investigative Commons" im Haus der Kulturen der Welt in Berlin läuft ebenfalls noch bis zum 8. August. Investigative Commons ist ein Zusammenschluss von Künstlerinnen, Journalisten und Aktivistinnen, darunter Forensic Architecture und Laura Poitras. Am 3. Juli stellt stellt die Gruppe im Haus der Kulturen der Welt ihre Arbeit  "Digital Violence: Wie die NSO Group Staatsterror möglich macht" vor.