Lina Stallmann, Sie haben Ihre Galerie Ende 2020 eröffnet. Zuvor haben Sie unter anderem in Paris bei der "Vogue" und beim Modedesigner Christophe Lemaire gearbeitet. Wie kam es, dass Sie der Mode den Rücken zuwandten, warum nun die Kunst?
Gute Frage. Kunst ist das Coolste der gesamten Welt. Deswegen. Bevor ich nach Paris ging, habe ich BWL in München studiert. Das hat mir emotional nicht gereicht. Also habe ich angefangen, in der Modebranche zu arbeiten. Ich mochte die Betriebsamkeit, das Künstlerische. Man konnte ein Magazin aufschlagen, und man hat irgendwie verstanden, was da passiert. Ich dachte immer: this is cool, this is different. Christophe beim Arbeiten zu begleiten, hat mich sehr beeindruckt. Alles entsprang seinem eigenen Universum. Vielleicht ist das rückblickend der erste Moment, in dem ich verstanden habe, was es bedeutet, Künstler zu sein.
Ist Mode denn Kunst?
Nein. Aber es ist künstlerisches Arbeiten. Und Mode kann sich natürlich auch an der Kunst anlehnen und künstlerisch sein, und vielleicht doch bis zu einem gewissen Grad Kunst sein. Aber sie muss getragen werden. Der Unterschied zwischen Kunst und Mode ist für mich, dass ein Kleid nichts bedeutet, wenn es nicht getragen wird. Wir aktivieren als Träger erst die Mode. Bei der Kunst ist das anders. Sie kann auch in einem Schuppen hängen und niemals von jemandem gesehen werden und wäre trotzdem Kunst. Das ist natürlich auch ein Widerspruch, weil jemand etwas sehen muss, damit man sagen kann: das ist Kunst. Das ist wie die tote Katze in der Box. Aber meiner Meinung nach, selbst wenn sie niemals gesehen würde, wäre sie trotzdem Kunst. Was de facto dann niemand bestätigen kann. Bei der Mode würde ich das nicht so sehen. Die Mode braucht uns, damit sie Mode ist und etwas Künstlerisches hat. Ich finde sie auch immer noch toll. Sie macht wirklich, wirklich Spaß. Aber ein Kunstwerk, das geht darüber hinaus. Ein Kunstwerk kann einem alles geben, was man jemals wollte.
Sie sprechen so begeistert über die Wirkung der Kunst. Wollten Sie nie selbst Künstlerin werden?
Nein, die Kunst müssen andere machen. Ich habe einen Master in Innovation Management am Central Saint Martins College in London gemacht. Es war spannend, von so vielen kreativen Menschen umgeben zu sein. Dort habe ich entdeckt, dass ich mich noch mehr zur Kunst als zur Mode hingezogen fühle. Alle Leute, die ich kannte, haben plötzlich in der Kunst gearbeitet. Und da habe ich verstanden, dass man - was für mich in der Mode immer klar war - Kunst schaffen kann, ohne selbst Kunst zu machen.
Wie meinen Sie das?
Die Kunst ist ein Ökosystem. Das hatte ich vorher nicht verstanden, oder ich wusste einfach gar nicht, dass es so existiert. Und dass man dabei sein kann und wirklich in großen und kleinen Gesten Kultur schaffen kann, das fand ich richtig cool. Das wollte ich dann auch.
Warum haben Sie sich in diesem riesigen Ökosystem für die spezifische Nische der Galerie entschieden?
Galerien bieten mehr Risiken, aber auch mehr Freiheiten. Ich entscheide über das Programm, die Positionen, Konzept, Kuration, alles. Das muss man natürlich auch bewältigen können, es muss funktionieren, es muss sich verkaufen. Das ist immer ein Faktor, und den muss man ja auch nicht wegerzählen. Ich habe in London in einer sehr großen Galerie gearbeitet und mir tausende andere Galerien angesehen und dabei oft gedacht: das ist gar nicht so gut. Das würde ich anders - besser - machen. Und dann auch: Das kann doch nicht sein, dass ich alles so richtig nervig finde. Wenn man eine Galerie hat, dann kann man machen, was man will. Dann kann man sich auch selbst beweisen - oder halt nicht beweisen -, dass man irgendwie doch wusste, wie man es macht.
Was hat Sie denn so genervt?
Oft war es die Auswahl der Kunst. Da dachte ich mehrfach: ja, das ist ja schon cool, aber echt jetzt? Muss man das machen? Muss man das sehen? Braucht die Welt das?
Zum Beispiel?
Zum Beispiel, dass große Galerien meist den secondary market oder estates pushen und nur wenig wirklich Zeitgenössisches, also contemporary zeigen. Und wenn, dann sind es sehr etablierte Positionen. Die Galerien wissen, wie groß ihre Macht ist und hängen dann langweilige Arbeiten von Dan Colen auf. Nicht, dass ich was gegen Colen habe, aber ich vermisse den Drang, junge Künstler zu pushen. Wenn man zum Beispiel David Zwirner ist, dann hat man ja theoretisch auch die Macht, das Allergeilste zu zeigen. Die können alles machen, was sie wollen. Und dann zeigen sie was Süßes und Nettes, und das wird dann verkauft. Und ich dachte: wie kann das sein?
Ist das nicht ein sehr idealistischer Blick auf Ihre Kolleginnen und Kollegen? Wie Sie schon selbst sagten, ist das Verkaufen ein wesentlicher Bestandteil des Lebens als Galeristin. Sind es nicht vielleicht doch eher die Institutionen, die dafür da sind, ohne Rücksicht auf Verluste "das Allergeilste" zu zeigen?
Institutionen brauchen lange, um etwas aufzugreifen. Klar, bei Galerien geht es ums Geld, aber ich glaube nicht, dass irgendwer sagt: Ich möchte auf jeden Fall reich werden, und deswegen mache ich eine Galerie auf. Sondern man findet Kunst toll, hat den Drang, sie zu zeigen. Sonst kann man auch überall anders arbeiten. Und ich glaube, man verdient besser.
Kunst in einer Galerie zu verkaufen ist also anders als Mode in einem Geschäft?
Natürlich ist Kunst nicht retail. Als Galerist schafft man Kontext, schreibt drüber, man denkt darüber nach, man bringt Künstler zusammen, man macht Ausstellungen, schafft Communitys. Klar es gibt free drinks, aber wen interessiert das? Am Ende kommen Leute zusammen, lernen sich kennen. Auf unseren Eröffnungen haben sich auch schon Pärchen gefunden. Natürlich kaufen nicht alle gleich etwas. Aber man ist im Austausch und versucht, gemeinsam herauszufinden, was Kunst eigentlich ist. Und dann gibt es doch die Käufer, und die sind auch toll. Aber es ist viel mehr als nur Händeschütteln und Verkaufen. Wenn das so wäre, wäre es ja cool, aber es ist einfach auch schwer, Kunst zu verkaufen.
Wie wurden Sie denn von den vielen Berliner Kolleginnen und Kollegen begrüßt?
Eigentlich waren alle immer ganz freundlich. Aber es ist auch nicht so, dass ich enge Beziehungen zu den Kolleginnen und Kollegen habe. Mit manchen tauscht man sich ein bisschen mehr aus, mit anderen weniger. Es ist eher selten, dass mal jemand zugibt, dass es gerade scheiße läuft oder niemand kauft. Aber wenn, dann freut man sich über die Offenheit und ist erleichtert, und man nimmt viel mit.
Wie finanziert sich die Galerie?
Durch Kunstverkäufe.
Es trägt sich?
Ja, wir sind noch da.
Und die Startfinanzierung?
Hatten wir keine.
Wie würden Sie denn das Galerie-Programm beschreiben?
Die Frage kann wahrscheinlich jemand anders von außen besser beantworten. Merkt man den Arbeiten diesen "Drang-zu-verstehen-was-Kunst-ist" an? Arbeiten die Künstler innovativ? Das Wort Innovation ist richtig nervig. Es geht eher darum, ob sich die Künstler fragen, was eigentlich morgen mit der Kunst passiert. Das ist eine Frage, die ich ja auch mit jeder Ausstellung versuche, ein bisschen zu beantworten. Sind die Werke neu? Ist es etwas, was ich noch nicht gesehen habe? Ich hoffe, dass mein Programm das widerspiegelt. Es gibt auf jeden Fall einen roten Faden. Wir zeigen junge Kunst. Viele erste Soloausstellungen. Supercontemporary. Und die Menschen können so neue Sachen bei uns entdecken.
Spiegelt sich das Alter der ausgestellten Kunstschaffenden in den Sammlerinnen und Sammlern wider, die bei Ihnen kaufen?
Ja, es gibt viele, die dann wirklich auch ihre ersten Kunstwerke kaufen. Und das ist ziemlich cool. Und ja, oft sind das sehr junge Sammler.
Viele andere Messen und Galerien klagen darüber, dass die Sammlerinnen und Sammler nicht nachwachsen würden. Das ist dann ja schon eher eine Seltenheit, dass dies einer Galerie so gut gelingt. Woran liegt das?
Es ist doch das Schönste, mit seiner eigenen Generation zu beginnen, wenn man anfängt zu sammeln.
Im aktuell krisengebeutelten Kunstmarkt stützen sich viele Sammler auf etablierte Werte. Sie machen mit Ihrem Programm das Gegenteil, und es funktioniert offenbar auch. Das ist sehr schön.
Ja. Das sind auch immer die tollsten Gespräche, die man hat. Wo man nicht nur über Sachen labert wie: oh, wo wurde der denn mal ausgestellt? Sondern wirklich über die Kunst spricht.
Dann lassen Sie uns über Kunst sprechen. Hinter Ihrem Schreibtisch, an dem Sie gerade sitzen, hängt ein Gemälde der Berliner Malerin Sophia Domagala. Wo liegt die Dringlichkeit in diesem Werk?
Sophia macht richtig coole Arbeiten, ich bin ein großer Fan. Sie versucht, die Blödheit der Malerei zu malen. Im nicht Blöden. Macht das Sinn? Sie malt meist Striche und Linien. Das ist wie ihre Unterschrift. Oder das letzte Wort, das sie der Arbeit gibt. Dazwischen versucht sie, mit Witz und auch Drang zu verstehen: Was kann eigentlich so ein dummer Pinselstrich? Wo ist es? Wo fängt ernsthafte und wo fängt unernsthafte Kunst an, und wo ist das Kindliche? Es ist natürlich eine sehr formale Art von Kunst.
Wie stehen Sie denn zur Bedeutung? Ich glaube, ich habe letztens gehört, dass eine Kollegin Domagalas Arbeiten als feministisch beschrieben hat.
Ja, das kann man machen. Aber ich glaube nicht, dass es das Spannendste ist, irgendwelche Inhalte auf das Kunstwerk zu drängen. Wenn man das nicht macht, kann alles drinstecken. Wenn man es macht, macht es die Arbeit nicht unbedingt besser. Es sollte doch darum gehen, was eigentlich auf der Leinwand passiert, und nicht um eine Agenda. Das ist dann schnell Propaganda, und das ist halt ein bisschen langweilig. Wenn jemandem politische Botschaften sehr wichtig sind, kann er doch ein Buch schreiben, anstatt sie auf die Leinwand zu drängen.
Sie sagten eben selbst, als Galeristin setzte man auch das Werk der Künstler in einen Kontext.
Ja, und da kann auch die Politik mit reinkommen. Aber es ist schöner, wenn man eine Geschichte erzählen kann, die den Kontext weiterspinnt. Zum Beispiel durch Bezüge zur Kunstgeschichte und emotionalen Welten.
Kann man, können Sie das Werk vom Künstler trennen?
Der Künstler ist immer in der Arbeit drin, auf jeden Fall. Aber die Arbeit ist auch ein autonomes Wesen, was auch ohne den Künstler weiterlebt. Von daher kann man das chirurgisch schon irgendwie separieren, aber natürlich gehört das auch zusammen. Alles steckt überall drin.
Geht Kunst-Machen mit Verantwortung einher?
Der Kunst gegenüber, ja.
Inwiefern?
Man hat Verantwortung, dass man die Kunst weiterbringt. Man hat tausende Abstraktionen gesehen, aber was kann noch eine Abstraktion sein? Wie kann man das Medium, die Kunst, weiter pushen? Das ist eine Verantwortung des Künstlers, auf jeden Fall.
Der US-amerikanische Kritiker Dean Kissick hat Künstler in einem recht kontroversen Artikel im "Harpers"-Magazin als "researcher without a cause" beschrieben. Auch er kritisiert darin die (identitäts-)politischen Ausrichtungen der Kunstszene der letzten Jahre und verteidigt ein fast romantisch anmutendes Kunstideal des Schönen und Emotionalen ...
Ich muss zugeben, ich bin Fan von diesem Artikel. Was macht die Kunst mit einem? Das ist eine gute Frage, und mit der im Kopf kann es schon sein, dass man durch eine Biennale läuft und feststellt: Es macht nicht so viel, und das kann dann schnell langweilig sein. Langweilig ist vielleicht ein merkwürdiger Begriff für dieses Gefühl, aber ich finde es gar nicht mal so schlecht als Kategorie. Denn Kunst sollte eben nicht langweilig sein.
Wann ist sie denn interessant?
Wenn sie nicht langweilig ist. Wenn sie etwas mit einem macht.
Aber Langeweile darf sie nicht mit einem machen?
Vielleicht eine lange, eine gute Langeweile.
Ich hake so nach, weil ich das Gefühl habe, in den letzten Monaten immer wieder über diesen vermeintlichen Gegensatz gestolpert bin: das Formal-Schöne, Sinnliche gegen das Politisch-Aktivistische.
Wirklich gute Kunst, muss kein Label haben und "Ich finde Faschismus scheiße" sagen, um gegen all die Scheiß-Politik zu sein. Es ist eine eigene Freiheit, die Kunst schafft, und die darin liegt, dass nicht alles unbedingt direkt ausgesprochen wird. Die kleinen Monster der Kunst, die kämpfen immer für die Freiheit. Wenn sie denn gut sind, und deswegen kann gute Kunst nicht ideologisch sein. Dann ist es Propaganda.
Ist der Begriff der Freiheit nicht auch oft höchst ideologisch aufgeladen?
Da kann ich mich jetzt nicht rausreden. Das ist er. Aber Freiheit ist eben auch wichtig. Damit Kunst immer gegen alles und für den nächsten Schritt sein kann. Eigentlich lebt die Kunst wirklich in der Gegenwart, aber alle anderen leben vielleicht immer ein kleines bisschen in der Vergangenheit. Und so können wir lernen.
Gerade haben Sie die in Berlin lebende Künstlerin Alizée Gazeau gezeigt, die ganze Galerie hing voll mit umgedrehten Pferdesätteln – Readymades. Was lernen wir von ihren Arbeiten?
Für manche Leute sind es Alltagsobjekte. Und wenn man sie einmal umdreht, sieht man auf einmal Abstrusitäten. Weil man Assoziationen hat oder Charaktere sieht oder Blumen. Das kann einem auch für andere Dinge die Augen öffnen. Dass nicht alles unbedingt immer so ist, wie man sich das dachte. Und in jeder Ecke, hinter jedem Ding steckt auch etwas anderes. Auch hinter jedem Menschen. Und dass es viele Abstraktionen gibt im Leben, die man ohne die Kunst nicht sieht. Und wenn man sie sieht, dann sind sie eigentlich ziemlich lustig. Und nicht langweilig.
Wurde es Ihnen schonmal langweilig, Galeristin zu sein?
Nein, zum Glück noch nicht.