Nora Fingscheidt über "Systemsprenger"

"Es sind gute Zeiten für Regisseurinnen"

Ein kleines Mädchen rebelliert gegen Sozialarbeiter und Erzieher: "Systemsprenger" ist das Spielfilmdebüt von Nora Fingscheidt - und der aktuelle Oscar-Kandidat für Deutschland. Ein Gespräch über eine emotionale Recherche und die Erfahrungen im Filmgeschäft

Mit ihrem Debütfilm "Systemsprenger" schaffte es Nora Fingscheidt auf Anhieb in den diesjährigen Wettbewerb der Berlinale. Dort gewann die 36-jährige Regisseurin den Alfred-Bauer-Preis für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet. Außerdem ist "Systemsprenger" nun auch der aktuelle deutsche Kandidat für den Auslands-Oscar. Der Film der im niedersächsischen Braunschweig geborenen Fingscheidt erzählt von der schwer erziehbaren Benni, die von einer Pflegeeinrichtung zur nächsten gereicht wird.

Warum genau haben Sie sich für Ihr Spielfilmdebüt die Geschichte der kleinen Systemsprengerin Benni ausgesucht?

Ich wollte schon lange einen Film machen über ein kleines, wütendes Mädchen und habe nie richtig die Geschichte dafür gefunden. Eines Tages, als ich einen Dokumentarfilm drehte über ein Heim für wohnungslose Frauen, zog plötzlich ein 14-jähriges Mädchen ein. Ich habe mich gefragt "Huch, was macht eine 14-Jährige hier?". Da sagte eine Sozialarbeiterin "Ach, Systemsprenger, die dürfen wir immer an ihrem 14. Geburtstag aufnehmen." Das war der Moment wo ich mich fragte "Systemsprenger? Was ist das denn für ein Begriff?". Dann habe ich angefangen zu recherchieren. Das war vor sechs Jahren.

Haben Sie seitdem an dem Film gearbeitet?

Die sechs Jahre, die wir jetzt schon an dem Projekt sitzen, sind nicht non-stop in den "Systemsprenger" geflossen. Es sind mehrere Filme in dieser Zeit entstanden; es gab Zeiten, wo ich die Arbeit an dem Film unterbrechen musste für ein Jahr, weil ich irgendwann gemerkt habe, die Recherche geht mir zu nah, ich kann's nicht mehr ertragen. Da brauchte ich Abstand, dann ging's wieder. So gab es immer wieder Wellen.

Ihre Hauptdarstellerin Helena Zengel war bei den Dreharbeiten neun Jahre alt. Wie haben Sie sie gefunden?

Die kleine Helena ist ein Wahnsinn und sie ist ein Riesengeschenk für den Film. Wir fanden sie ganz klassisch über Kindercasting - Helena war die siebte im Casting.

Wie haben Sie einer Neunjährigen erklärt, was sie wie genau tun sollte?

Wir wussten, dass wir eine lange Vorbereitungszeit brauchen. Mir war es wichtig, dass Helena das ganze Drehbuch kennt, bevor sie zusagt. Mit ihrer Mutter hat sie das Drehbuch gelesen. Danach haben wir gemeinsam begonnen, die Rolle vorzubereiten. Helena war bei jedem Casting dabei, ich wollte sehen wie die Zwei jeweils miteinander funktionieren. Dadurch ist auch für Helena langsam diese Welt entstanden. Wir haben uns außerdem entschieden, dass wir nicht allzu viel schlimme Dinge an einem Tag drehen, sondern den Inhalt behutsam zerstückeln. Wir haben auch viel darüber gesprochen "Wie würde Helena jetzt reagieren und wie Benni?" - damit sie das nicht durcheinanderbringt.

Immer wieder wird über die Rolle von Frauen im Filmbusiness gesprochen. Ist es als Frau schwieriger hinter der Kamera, wie ist da Ihre Erfahrung?

Meine persönliche ist eine gute, gleichwohl ist es wichtig, dass die Debatte geführt wird. Ich bin sehr glücklich, dass ich in einer Generation aufgewachsen bin, wo mir Türen offen standen. Als ich gerne Regisseurin werden wollte, hat nie jemand gesagt: "Aber das geht doch nicht". Meine Zusammenarbeit mit Männern ist toll. Ich erlebe viele aufgeschlossene Männer, die auch gerne mit einer Regisseurin zusammenarbeiten wollen. Ich bin mal gespannt, wie es weitergeht. Es sind gute Zeiten für Regisseurinnen. Es ist toll, dass sich das Blatt jetzt wendet. Ich merke, dass sich da viel ändert. 

Unsere Kritik zu "Systemsprenger" lesen Sie hier