Neue Direktoren am Hamburger Bahnhof

"Wir müssen uns viel stärker mit der Kunstwelt in Berlin vernetzen"

Till Fellrath und Sam Bardaouil, Direktoren des Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart - Berlin, 2022
Foto: © Nationalgalerie - Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker

Till Fellrath (links) und Sam Bardaouil

Seit Anfang des Jahres leitet der Kurator Till Fellrath zusammen mit Sam Bardaouil das Museum Hamburger Bahnhof in Berlin. Hier erzählt er, was die beiden mit dem Haus vorhaben


Till Fellrath, Sie haben gemeinsam mit Sam Bardaouil erstmals ihre Vision für den Hamburger Bahnhof skizziert. Was ist Ihr Ansatz?

Wir sind von der Metapher des Bahnhofs ausgegangen. Das Gebäude war nur recht kurz ein Bahnhof, eigentlich ist die Haupthalle immer eine Museumsarchitektur gewesen, es war ein Verkehrsmuseum. Trotzdem ist die Metapher des Bahnhofs wunderbar, weil man irgendwo hinfährt, irgendwo ankommt, Menschen begegnen sich, es ist ein Platz für den Austausch von Ideen, es ist eine Reise.

Das Museum als Ort der Reise - was noch?

Darauf bauen wir drei Themenkreise auf: Das Museum als Ort der Erinnerung, das Museum als Archiv der Zukunft und das Museum als Ort der Begegnung.

Der Hamburger Bahnhof ist ja ein Museum für Zeitgenössische Kunst - wieso Erinnerung?

Da geht es auch ganz konkret um die Geschichte des Hauses selbst, das die Geschichte Deutschlands spiegelt. Es steht an der Demarkationslinie zwischen Ost- und Westdeutschland, während der Deutschen Teilung gehörte es der Deutschen Reichsbahn und war somit eine DDR-Enklave auf westdeutschem Gebiet. Unsere Geschichte ist nach wie vor präsent, es gibt den Auftrag, sich damit auseinander zu setzen, über Trennlinien zusammen zu kommen, Menschen unterschiedlicher Blickwinkel sollen hier sich austauschen können.

Wie soll diese Geschichte gezeigt werden?

Der Ort des Erinnerns soll sich in einem Archivraum manifestieren, der wahrscheinlich hinter dem Buchladen installiert wird. Dort soll die Geschichte des Gebäudes in Verknüpfung mit der deutschen Geschichte erzählt werden, um zu sehen: Wo sind wir eigentlich heute? Zeitgleich wollen wir da auch die Geschichte der gesamten Nationalgalerie erzählen. Wir müssen mehr darüber sprechen, dass wir auch Teil dieser Institution sind, mit ihrer wechselvollen Ost-West-Geschichte.

Und was kann man unter dem "Museum als Archiv der Zukunft" verstehen?

Es gibt wenige Städte, wo so viele Künstler und Künstlerinnen leben wie in Berlin. Aber es gibt keinen Ort, wo man das richtig wahrnehmen kann. In Paris kann man den Aufbruch der Avantgarde im Centre Pompidou nachvollziehen. Wir sind überzeugt, dass es die Aufgabe des Hamburger Bahnhofs und der Nationalgalerie ist, vielleicht rückwirkend seit der Wiedervereinigung oder seit der Jahrtausendwende, die Kunst in Berlin zu dokumentieren, so dass man sich hier eines Tages einen Überblick darüber verschaffen kann. In dem Zusammenhang werden wir auch bei der Präsentation der Sammlung stärker auf Berlin achten - was nicht zwingend heißt, dass es Berliner Künstlerinnen und Künstler sein müssen, aber einen Bezug sollte es geben. Außerdem wollen wir sehr stark auf zeitgenössische Kunstpraktiken achten und zeigen, wie sich die Kunst entwickelt.

Und dann gibt es noch das "Museum als Ort der Begegnung".

Wir denken Museen nicht vorrangig als einen Raum, in dem Werke an der Wand hängen, sondern als einen offenen Ort, der in Dialog mit dem Publikum ist und auch nicht von der Kanzel herab erklärt, wie ein Werk verstanden werden soll. Die ganze Herangehensweise muss sich komplett umdrehen. Wir müssen unterschiedliche Meinungen zulassen, unterschiedliche Menschen empfinden Kunst ganz anders. Außerdem sind wir im Zentrum Berlins. Direkt neben dem Hauptbahnhof, wo 300.000 Menschen am Tag vorbei kommen - das sind so viele, wie den Hamburger Bahnhof in Vor-Corona-Zeiten im ganzen Jahr besucht haben. Wir sind fußläufig fünf Minuten vom Kanzleramt entfernt, wir sind inmitten der Europa-City, in der knapp 30.000 Menschen leben und arbeiten. Wir müssen uns da neu finden. Unsere Besucher und Besucherinnen kommen aus aller Welt und aus den unterschiedlichsten Schichten und Milieus in Berlin. Das muss in die DNA der Institution übergehen. Wir müssen abbilden, wie international die Kunstszene hier ist und wie divers unser Publikum und die Bevölkerungsstruktur Berlins sind.

Wie stark wird das Augenmerk auf der lokale Szene sein?

Wir müssen uns viel stärker mit der Kunstwelt in Berlin vernetzen. Wir sind Teil dieses Kunstlebens in der Stadt, wir sollten ein zentraler Hub sein, die Nationalgalerie ist das größte Haus am Platz. Wir sollten uns gemeinsam für die Standorte und die Vielfältigkeit einsetzen. Deshalb wollen wir auch einer der Hauptspielorte der Berlin Biennale sein, der wir die Rieckhallen zur Verfügung stellen werden.

Sind Sie optimistisch, dass Sie die Rieckhallen langfristig für den Hamburger Bahnhof sichern können?

Es gab die Absichtserklärung, dass es einen Grundstückstausch des Landes Berlin geben soll, um die Rieckhallen in öffentliches Eigentum zu überführen. Das ist nach wie vor in der Planung und Ziel der Landesregierung. Das wird in den kommenden Monaten hoffentlich beschlossen, ich denke, dass wir im Sommer Klarheit haben werden.

Und gibt es noch Gespräche mit Flick zum Abzug seiner Sammlung?

Ein wichtiger Teil der Sammlung ist ja als Schenkung in den Bestand der Nationalgalerie übergegangen, der Leihvertrag für die restlichen Werke ist ausgelaufen, sie sind bereits zurückgegeben. Für den Hamburger Bahnhof geht es ja künftig ohnehin mehr in Richtung zeitgenössischer Kunst. Was nicht heißt, dass nicht unterschiedliche Epochen mit einbezogen werden, aber der Fokus wird in Zukunft noch stärker auf der Gegenwart liegen.

Ist es dann für den Hamburger Bahnhof überhaupt wichtig, in Zukunft noch neue große Sammlungen an sich zu binden?

Das ist in der Tat eine Frage, die wir uns stellen. Die Sammlung der Nationalgalerie ist ja wesentlich breiter als beispielsweise nur die Sammlung Flick. Die Frage ist, inwieweit man im Zuge der Diversität in Zukunft viele unterschiedliche Perspektiven mit einfließen lassen muss. Der Hamburger Bahnhof ist dabei gerade das Haus, das die Sammlung der Nationalgalerie um die jeweils aktuelle Kunst erweitert und auch Neuproduktionen für die Sammlung sichern kann – eben auch als Archiv der Zukunft.

Was erwartet das Publikum in den kommenden Monaten?

Im Juni eröffnet die Kleihueshalle mit Werken der Sammlung Marx unter dem Titel "Balance", die zweite Ausstellung "Under Construction" beschäftigt sich mit Neuerwerbungen der letzten Jahre. Im Herbst beginnen wir den Archivraum. Unsere eigenen Ausstellungen betten wir in ein längerfristiges Programm ab 2023 ein, das wir im Sommer vorstellen werden.

Ist der Hamburger Bahnhof in seinem Potenzial in Berlin in den letzten Jahren unterschätzt worden?

Ganz eindeutig. Da ist sehr viel Potenzial und wir haben vor, das auszuschöpfen.