Ein Pariser Fotograf gibt seinen lukrativen Brotberuf auf, weil er lieber Bücher schreiben will. Die Erwartungen sind hoch, das Geld ist knapp. Obwohl seine Verlegerin große Stücke auf ihn hält, muss Paul (Bastien Bouillon) jeden Gelegenheitsjob annehmen, den er kriegen kann. Vor und nach der Maloche schreibt er.
Valérie Donzelli erzählt in ihrem Film "À pied d’œuvre" vom Glück der Selbstbestimmung, die einen hohen Preis hat. Für die Adaption des autobiografischen Romans von Franck Courtès’ ("An der Arbeit") wurden Donzelli und ihr Co-Autor Gilles Marchand bei den Venedig-Filmfestspielen mit dem Silbernen Löwen für das Drehbuch ausgezeichnet. Wir haben die Regisseurin und ihren Hauptdarsteller Bastien Bouillon zum Interview getroffen.
Valérie Donzelli, wie haben Sie Franck Courtès Roman "À pied d’œuvre" entdeckt?
Valérie Donzelli: Im Radio hörte ich ein Interview mit Franck, und das Thema fand ich sehr interessant, ebenso die Art und Weise, wie er seine Geschichte erzählte. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, war mir klar, dass ich es unbedingt adaptieren muss. Ich nahm Kontakt zu Franck via Instagram auf und schrieb ihm, der Roman würde einen tollen Kinostoff hergeben. Er teilte mir mit, dass die Rechte bereits an Ilan Goldman verkauft waren – der meinen Film schließlich auch produzierte.
Sie haben am Stoff einiges geändert. Der Protagonist heißt schon mal nicht Franck Courtès, sondern Paul Marquet. Und Courtès, der bei seinem Berufswechsel schon 50 war, schlüpfte während seiner midlife crisis bei seiner Mutter unter, während Paul sich hauptsächlich mit seinem verständnislosen Vater streitet.
VD: Ja, ich habe aus der Mutter- eine Vaterfigur gemacht, diese Konstellation fand ich interessanter. Außerdem habe ich Szenen mit der Verlegerin bei Gallimard eingefügt, die von Virginie Ledoyen gespielt wird, und die es im Buch nicht gibt. Insgesamt sind wir der Vorlage aber sehr treu geblieben.
Ich habe das Buch noch nicht gelesen, aber es ist unübersehbar, dass Bastien zehn Jahre jünger ist als Franck Courtès es zu der Zeit war, in der er zu Schreiben anfing.
VD: Ich wollte, dass Paul jünger ist, was für mich ein politisches Statement ist. Wenn jemand mit 50 den Beruf wechselt, wird das eher als persönliche Entscheidung gewertet, bei einem 40-Jährigen rückt die Wahl strukturelle gesellschaftliche Probleme wie Arbeitsmarkt-Unsicherheit, Generationen-Ungleichheit und Zukunftsängste in den Fokus. Ich bin jetzt 52 und damit in einem Alter, in dem man öfter zurückblickt auf das, was war. Ich wollte eine Hauptfigur mit der Lebensenergie eines 40-Jährigen, der für sich Weichen stellt – was in diesem Alter noch riskanter ist.
Wie blicken Sie denn auf Ihre eigenen Wendepunkte oder Krisen zurück?
VD: Ich habe natürlich selbst schwierige Phasen durchgemacht. Vor allem aufgrund einer Reihe von Unfällen, die mich zwangen, Pläne zurückzustellen. Es war, als wachte ich in einem völlig veränderten Universum auf. Du merkst, deine Methoden von früher funktionieren nicht mehr. Ich habe eine sehr heikle Phase durchlebt, und in diesen Momenten wurde mir bewusst, wie zerbrechlich unser Dasein eigentlich ist – und wie schwer es sein kann, nach solchen Rückschlägen wieder auf die Beine zu kommen. Aber ich habe einen Film darüber gemacht, der es mir ermöglichte, weitere Filme zu machen
In "Das Leben gehört uns" von 2011 erzählen Sie die Geschichte der Krebserkrankung Ihres Sohnes.
Ich weiß also, wie fragil das Leben sein kann, zumal ich nicht aus einer wohlhabenden Familie stamme. Nun ist das Filmemachen meine Arbeit und damit auch mein Broterwerb, damit ich meine Familie ernähren kann. Allerdings war keins meiner Projekte einfach dazu da, meine Finanzen aufzubessern. Ich habe das Filmemachen immer als künstlerische Herausforderung betrachtet. Ich stamme nun einmal aus einer Künstlerfamilie.
Bastien Bouillon, mussten Sie oft zwischen Kunst und rein finanziellen Erwägungen entscheiden?
Bastien Bouillon: Nach dem Abitur bin ich erstmal in viele Länder gereist, nach Afrika, Asien, Amerika. Damals dachte ich, so könnte es weitergehen. Es war eine Zeit des Suchens und Wachsens. Mein Dilemma war: Um Reisen zu können, musste ich Gelegenheitsjobs annehmen, ähnlich wie Paul, den ich spiele. Das hat mir die Reiselust dann etwas verdorben. Und später als Schauspieler habe ich natürlich alle möglichen Aufträge inklusive kleiner TV-Auftritte angenommen, um mich über Wasser zu halten. Wenn man einige Zeit nur so mittel-erfolgreich ist, stellt sich schon die Frage, ob man weitermachen soll. Ich bin drangeblieben, und nun sitzen wir in Venedig beieinander. Das ist doch schön.
Im Film setzt Pauls Vater ihn unter Druck, weil er sich eine Schriftstellerkarriere seines Sohnes nicht vorstellen kann. Ihr Vater ist Gilles Bouillon, selbst Schauspieler und Theaterregisseur. Hat er Sie eher unterstützt oder gewarnt?
BB: Er hat weder versucht, mich zu entmutigen noch zu ermutigen. Mein Vater hat meine Wahl akzeptiert. Aber er wusste natürlich, wie schwierig der Schauspielberuf sein kann, die Angst um meine Zukunft war da – und hat lange angehalten.
Valérie Donzelli, viele Szenen zeigen Paul bei seinen Jobs, wie er auf Garten- oder Reparaturarbeiten schlecht vorbereitet ist oder sich an Balkonpflanzen die Hände zerkratzt. Es sind im Schmalfilm-Format gedrehte Miniaturen, bei denen Pauls Kontakt mit der mehr oder weniger sympathischen und fast immer knauserigen Kundschaft im Mittelpunkt steht. Aber gerade aus diesen beiläufigen Momenten entsteht am Ende Literatur. Ein anderer Roman, als der von Paul ursprünglich geplante.
VD: Ja, das fand ich interessant, und es stellte sich zugleich als schwer umsetzbar heraus. Ich weiß auch nicht, ob es mir gelungen ist. Ich möchte von der Schwierigkeit schöpferischer Arbeit erzählen. Für mich spiegelt das die Formatwahl, denn alle diese Szenen sind in körnigem Super-8 gefilmt. Paul beobachtet diese kleinen Alltagswelten, und am Ende gelingt es ihm, seine Erlebnisse durch das Schreiben zu überhöhen. Vorher muss er dem Erfolgsdruck von außen standhalten, denn er kann ja nicht wissen, wann der Durchbruch zur genuinen Form gelingt. In unserer Geschichte zerstört Pauls Vater seinen Laptop, die dort gespeicherten Texte sind unrettbar verloren. Paul muss mit Schreibblock und Stift neu anfangen, das ist die entscheidende Wendung.
Was hilft Ihnen beim Drehbuchschreiben?
VD: Wenn ich Filme schreibe, brauche ich Tempo. Ich muss die Dinge schnell machen, sonst blockiere ich. Mich erstaunen, ja irritieren Regisseure, die meinen, man könne nur alle zehn Jahre einen guten Film machen. Diese Haltung ist mir ein Rätsel. Zumindest hätte ich persönlich Angst davor, aus der Übung zu kommen. Ich habe eine organische, fast handwerkliche Beziehung zu meinen Filmen. Unvollkommenheiten in meinen Filmen sind mir lieber als Leerlauf. Ich schreibe und drehe einen Film, dann ist er abgeschlossen, dann arbeite ich am nächsten Projekt weiter. Ich brauche immer wieder Abwechslung, ein neues Thema. Und es gibt meistens einen starken Zusammenhang zwischen meiner persönlichen Situation und dem jeweils aktuellen Filmprojekt …
Bastien, wie haben Sie sich auf Ihre Rolle vorbereitet?
BB: Ich habe sie relativ spät übernommen, höchstens drei Wochen vor den Dreharbeiten. Valérie wollte mich früh als Paul besetzen, aber die Finanzierung des Films stand einige Zeit auf der Kippe. Ich fühlte mich sehr zu der Figur und zu ihrer Suche nach einem authentischen Leben hingezogen. Ich teilte einige Lebenserfahrungen mit Paul. Das wollte ich erst gar nicht wahrhaben, es hat mich einiges an Demut gekostet. Um mich in Pauls Lage zu versetzen, musste ich mich als Schauspieler vollkommen vergessen, die Aufgabe war, alle Eitelkeit abzulegen, eben nicht zu sagen: Schaut mal, Leute, wie eindrucksvoll ich diese Figur darstellen kann. Demut vor der Rolle, das ist das richtige Wort in diesem Fall.
Paul findet seine Gelegenheitsjobs über eine Plattform, in der sich die Jobsuchenden gegenseitig unterbieten müssen, um den Zuschlag zu bekommen. Das erscheint mir unrealistisch, denn ich glaube nicht, dass das französische Arbeitsrecht so etwas erlaubt.
VD: Nein, das ist nicht erfunden. Solche Portale existieren. Das entspricht unserer "schönen" neuen Billiglohnwelt. Der Konkurrenzdruck wird ausgenutzt, jeder versucht, sich so günstig wie möglich anzubieten, um überhaupt an Arbeit zu kommen. Ich habe selber Erfahrungen mit so einer App gemacht.
Wie?
Einmal ließ ich mein Fahrrad reparieren. Ein Jahr später war mein Rad wieder kaputt, und ich fand die App nicht mehr. Stattdessen gab es ein neues Portal, mit einer Suchmaske, in der ich "Fahrradreparatur" eingab. Es war eine Service-App für alle möglichen Arbeiten. Jemand meldete sich mit dem Angebot, mein Fahrrad für 18 Euro zu reparieren. Das war günstig, und ich schrieb "Okay", der Termin wurde auf 10 Uhr angesetzt. Aber der Mann kam nicht. Als er um 10.30 Uhr noch nicht da war, rief ich seine Handynummer an. Er sprach mit Akzent, er hatte sich in Montparnasse verlaufen. Ich vermute, er hatte keine Papiere. Ich spürte seine Angst vor einer schlechten Bewertung. Es stellte sich dann heraus, dass der Mann von ziemlich weit her kam, außerhalb von Paris, 18 Euro für eine Fahrradreparatur waren mitsamt der Fahrtkosten überhaupt nicht rentabel. Es gibt diese Arbeitsarmut, die Leute senken ihre Preise, um überhaupt Jobs zu kommen. Diese Abwärtsspirale hat mich traurig gemacht. Neuerdings gibt es eine Website, in der Leute Putzjobs oder Massagen anbieten. Die Betreiber dieses Portals behalten mehr als 50 Prozent vom Lohn ein. Und die Arbeitssuchenden unterbieten sich dazu noch gegenseitig. Sowas gibt es in Frankreich, und es ist nicht einmal illegal.
Monopol-Filmkritiker Jens Hinrichsen (links) mit Regisseurin Valérie Donzelli und Bastien Bouillon in Venedig