Als ich noch in Koernersfelde Abbey lebte und noch keine Champagnersozialistin war, hatten wir eine bezaubernde britische Nanny, Iris van Crabtree. Und die zitierte immer einfache, aber unendlich wahre britische nuggets of wisdom: "My amazing darling, ich kann dir nicht viel mitgeben ins Leben, aber merke dir eines – you can’t have the cake and eat it." Das heißt soviel wie "Du kannst nicht alles haben, den Kuchen besitzen und aufessen". Und ein anderes ihrer beliebten, späten Sprichwörter: "Facebook-Freunde sind keine echten Freunde." Sie starb kurz darauf in einem Damenstift in Hull.
Ich musste wieder an sie denken, besonders als ich am Wochenende das große "Spiegel"-Interview mit Klaus Biesenbach, dem Direktor der Neuen Nationalgalerie, las, in dem er mal kurz Schluss macht mit dem lästigen woken Kulturkampf. In dem Gespräch geht es zunächst noch um Nan Goldins Protestrede gegen das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza, das sie bei ihrer Ausstellungseröffnung in der Neuen Nationalgalerie als "Genozid" bezeichnete. Dann geht es um Biesenbachs Haltung zu Deutschlands Naziverbrechen, seine US-amerikanische Staatsbürgerschaft, seinen einmonatigen Arbeitsaufenthalt für "Aktion Sühnezeichen" in einem israelischen Kibbuz, sein Entsetzen über Goldin, wie schwer es für ihn gewesen sei, eine solche Rede in dem Museum zu ertragen, "das ich verantworte".
Biesenbach inszeniert sich als Verfechter der Meinungsfreiheit. Er wäre lieber gefeuert worden als Goldin auszuladen, weil gerade das dieses Bild gestärkt hätte, das in der US-Kunstszene die Runde machte: dass in Deutschland Zensur, eine Stimmung wie in den 1930er-Jahren herrsche, als es "ebenfalls gefährlich war, seine Meinung zu äußern". Doch Biesenbach hat durchgehalten: "Nach dem Abend in der Neuen Nationalgalerie sagt das keiner mehr, und in Deutschland hat mittlerweile die Verunsicherung spürbar abgenommen." Das kann man wohl sagen.
Ein "elitär-dekoratives Statussymbol für die herrschenden Eliten"
Fast zeitgleich mit der Publikation des Interviews sprach Ulf Poschardt, "Welt"-Herausgeber und Verfasser des Bestsellers "Shitbürgertum", während einer Debatte über Cancel-Culture bei den Wiener Festwochen endlich einmal Klartext: "Das Klima der Angst und Einschüchterung hat nicht nur die intellektuellen Debatten steril und öde gemacht, die Theater weitgehend unappetitlich und den steuerfinanzierten Kunstbetrieb zu einer Freakshow antiwestlicher, antisemitischer, antiliberaler Positionen."
Das "Shitbürgertum" wird für Poschardt von den woken, tugendhaften, linken Eliten verkörpert, die nur die Wahrung der eigenen Privilegien interessiert, aber auch von der ARD und der bigotten Vielfliegerin Annalena "Antichrist" Baerbock, du weißt schon. Die "postkolonialen Shitkünstler von Ruangrupa" sind für ihn die "Entsprechung zur Salonmalerei des 19. Jahrhunderts", ein "elitär-dekoratives Statussymbol für die herrschenden Eliten". Zu den evil powers gehören auch der "hyperkapitalistische Kunstmarkt, die Gagosians und Würths dieser Welt", die bei Springer früher noch kräftig hofiert worden waren: eine Szene, die nun bestimmt kein "Ruangrupa kauft", die so ein Kollektiv wahrscheinlich noch nicht mal für Kunst hält.
Das ist superlustig und verpupst, weil das von einem Mann kommt, der vor einigen Jahren noch das "Geschmacksbürgertum", die Zehlendorfer Häuslebauer und Gallery-Weekend-Besucher als die nietzscheanische Speerspitze des Neo-Konservatismus gefeiert hatte. Doch das eigentlich Moderne ist Poschardts Abmoderation: "Ich verspreche Ihnen, dass ich versuchen werde, so viel wie möglich von dem kaputtzumachen, woran Sie glauben, wofür Sie kämpfen, von dem Sie finanziert werden, von dem Sie gefördert werden. Das wäre zwar hübsch pathetisch, aber es ist Quark. Und vollkommen unnötig. Niemand zerstört Sie besser als Sie sich selbst. Bitte machen Sie unbedingt so weiter. Ich danke Ihnen dafür wirklich sehr."
Die Ideologie des System-Reboots
Damit tutet Poschardt in das Horn von Curtis Yarvin (früher Mencius Moldbug), dem Vordenker der amerikanischen Rechten, von Leuten wie Elon Musk, Peter Thiel und JD Vance. Yarvin, dem der "New Yorker" gerade ein exzellentes Porträt widmet, galt lange als Spinner. Doch erst jüngst wurde er an der von Trump heftig angefeindeten Harvard-Universität eingeladen, um mit Danielle Allen, einer der angesehensten Politikwissenschaftlerinnen der USA, zu debattieren.
Hier ein Schnellkurs: Yarvin betrachtet moderne Demokratien als verrottet, korrupt, so am Ende, dass sie erstmal völlig zerstört werden müssten. Verkörpert werde das alte Herrschaftssystem durch "The Cathedral", einen mächtigen Verbund aus Universitäten, Medien, Kulturbetrieb und Bürokratie, die sich wie eine säkulare Kirche zusammentun, um linksliberales Denken wie ein Dogma zu verbreiten, was einer soften totalitären Herrschaft gleichkomme.
Nach der Zerstörung findet ein völliger System-Reboot statt, bei dem der Staat, in diesem Fall die USA, wie ein Unternehmen von CEOs geführt wird; also autokratisch, unter der Diktatur einer Tech-Elite oder kapitalistischen Monarchie, die sich durch Kompetenz, aber vor allem durch Eigentum legitimiert.
Revolutionär im Kaschmirpulli
Ulf P. sieht sich wahrscheinlich schon als deutsche Speerspitze dieser neuen Monarchie, einen Revolutionär im Kaschmirpulli, dessen Stunde nach so vielen uncoolen Jahren nun endlich kommt. In den USA klappt das ja auch schon ganz gut. Wer über die Nerds und die Mobster von einst lacht, wird jetzt ruck-zuck deportiert oder als "Sozialschmarotzer" mitsamt aller illegalen Migranten zu Biomüll verarbeitet.
Deshalb, Leute, macht es mal lieber wie Klaus Biesenbach und wandelt euch von den Gläubigen in der Kathedrale des "Shitbürgertums" zu einer neuen, aktuellen Elite. Und fangt schon mal an, Abbitte für eure lächerliche Wokeness und verlogene politische Korrektheit zu leisten.
"Die Gesellschaft ändert sich ständig, und so auch die Kunstwelt, nur erkennt man es nicht immer sofort, auch ich nicht", weiß Biesenbach zu berichten. Er, der ja bislang als Vorreiter des progressiven, liberalen Kunstbetriebs gesehen wurde, sei eigentlich Opfer der von ihm mitgeschaffenen Umstände: "Plötzlich gelten neue Regeln, und man weiß nicht einmal, wer sie aufgestellt hat. Seit einigen Jahren dreht sich in der Museumswelt alles nur noch um DEI, wie es im Amerikanischen heißt. Um Diversität, Egalität, Barrierefreiheit und Inklusivität. Aber dann wurde es unerträglich."
"So groß war die Angst, etwas Falsches zu sagen"
Die Pandemie, der ermordete George Floyd, die ersten Trump-Jahre wurden für Klaus eine "Kulturkampf-Tortur", ganz schrecklich: "Dieser neue Dogmatismus, die Wortdiktate, diese politische Korrektheit und das 'Virtue Signalling' – dass man also ständig überall sagen musste, dass man auf der richtigen Seite steht – waren unerträglich." Ja, unerträglich. Eine regelrechte Katharsis setzt dann ein, als er bei einem Dinner mit Mäzenen über den Mangel an Meinungsfreiheit sprechen will. Und die Gastgeberin daraufhin einen Löffel vom Tisch schnippt, woraufhin das Thema gewechselt wird. "So groß war die Furcht in der Runde, sich zu äußern und das Falsche zu sagen."
"Na ja", höre ich meine Nanny Crabtree aus dem Jenseits flüstern, "ein Mann, in dessen Telefon laut eigenem Bekunden eine halbe Million Social-Media-Kontakte, die Nummern von Bruce Nauman oder Jasper Johns, diversen Popstars und vermögenden Förderern schlummern, könnte ja mal versuchen, seine ehrliche Meinung, wozu auch immer, zu sagen."
Da kann ich ihr nur zustimmen. Vor allem, wenn die Techno-Autokratie und die völkische Rechte vor der Tür stehen und genau diese Freiheit abschaffen wollen und die fucking Institutionen und Diversitätsprogramme gleich mit. In Deutschland würde das die AfD ohne mit der Wimper zu zucken tun, wenn sie an die Macht käme. Aber Biesenbach findet das selbst auch ganz folgerichtig: "Mich hat Trumps Erfolg 2024 nicht gewundert." Ein großer Teil der Bevölkerung, so weiß er, "reagiert mittlerweile allergisch auf diese Correctness und fühlt sich bevormundet. Mit Trump erleben wir nun den zweiten Teil einer Tragödie und können nur hoffen, dass es keinen dritten gibt."
Eine wunderbare Steilvorlage
Na, viel Glück! Wer Freunde wie Biesenbach hat, braucht keine Feinde mehr. Sein selbstmitleidiges Interview liefert der Rechten und der Springer-Presse, die schon seinen Kopf forderte, eine wunderbare Steilvorlage. Nicht nur das. Es ist wirklich zum Kotzen, dass Institutionskritik inzwischen vor allem von der Neo-Rechten ausgeübt wird – mit der Abrissbirne.
Natürlich hat das Desaster um Nan Goldin gezeigt, dass da eine Reform der Museen notwendig ist. Dazu kommt bei Biesenbach kein Wort: wie Museen konsequenter mit den Debatten um Gaza, Antisemitismus, Islamophobie, Demokratie umgehen könnten. Er sei über das Ausmaß, die Unbändigkeit, die rohe Energie des Protests total geschockt gewesen, sagt er. "Ich hätte nicht gedacht, dass es so aggressiv wird. Ich hätte nie gedacht, dass Nan so kalt ist. Dass sie das so durchzieht."
Wenigstens eine, die in deinem Haus was durchzieht, möchte man dem Direktor zurufen. Was hat das mit Freundschaft zu tun? Und was ist daran "kalt", gegen die Tötung von zigtausenden-Palästinensern, Frauen und Kindern zu protestieren und Kritik an der teils rechtsradikalen Regierung in Israel zu üben? Man kann dieses Niederschreien und Skandieren der immergleichen chants von privilegierten Leuten, die nicht aus Gaza, sondern aus dem Kunstbetrieb kommen, zutiefst ablehnen. Natürlich gibt es auch da Selbstgerechtigkeit, knallhartes Mobbing. Natürlich ist das ein Dilemma – für alle. Aber das, was Goldin als jüdische Künstlerin sagte, war zutiefst menschlich und absolut notwendig, mancher wird sagen historisch – im Gegensatz zu Biesenbachs halbherzigem Spagat zwischen den Stühlen.
Die ganze Kultur war damals kontroverser, differenzierter, härter
Ich kann das als auch Nachfahre von fanatischen Nazis sagen, als jemand, der keine Orangen im Kibbuz gepflückt hat, aber mit den Folgen des Holocaust aufgewachsen ist. Ich kann das sagen, weil in den späten 1970ern Marcel Ophüls‘ "Nicht Schuldig?" und Claude Lanzmanns "Shoa" im Fernsehen liefen, weil ich in Konzentrationslager und nach Plötzensee fuhr, weil wir damals alle die Filme aus Auschwitz und Buchenwald gesehen haben, weil die Naziverbrechen in den Schulen ganz wesentlicher Teil des Geschichtsunterrichts waren, weil es zumindest für uns Bildungsbürger Fassbinder, Kluge, Syberberg gab, weil wir schon als Kinder die RAF mitbekamen, die ganze Kultur damals kontroverser, differenzierter, härter über die deutsche Vergangenheit debattierte – auch weil die alten Nazis noch lebten.
Es gab nicht dieses Schwarz und Weiß. Es war nicht abgeschlossen, sondern ein Prozess. Nur eins war für meine Generation bindend: das "Nie wieder!" Es war absolut unvorstellbar, dass Faschisten und rechte Gruppierungen linke, kritische Jüdinnen und Juden, oder einfach alle, die ihnen politisch nicht passen, als "Antisemiten" beschimpfen.
Klaus Biesenbach will die Demokratie schützen, die "gesellschaftliche Mitte" stärken, doch die "errungenen Freiheiten", für die er kämpfen will, diskreditiert er im selben Atemzug. Genauso wie Ulf Poschardt Teil der kunstsinnigen Kultur-Elite ist, die er angeblich zerstören möchte, ist Biesenbach weder woke noch ein Kämpfer für die Meinungsfreiheit.
Engagement kann an- und abgestellt werden
Bei beiden geht es vor allem um Kohle, um kulturpolitischen Einfluss, der zunehmend nur noch mit Geld zu erreichen ist. Der eine macht eine Promo-Tour für sein Buch, das sich an alle richtet, die sich für Leistungsträger halten und den Schnabel nicht voll genug bekommen. Der andere will sich in seinem Netzwerk alle Optionen offenhalten, schön mit Patti Smith Karottensalat mümmeln, es sich aber gleichzeitig nicht mit den nach rechts driftenden Milliardären in seinem Telefon verscherzen.
Die philanthropische Elite, von der die internationale Kunstwelt zu großen Teilen lebt, kann ihr Engagement blitzschnell an- und abstellen, ohne der Öffentlichkeit verpflichtet zu sein. Biesenbach ist jedoch der Öffentlichkeit verpflichtet, und da erwartet man zumindest etwas Konsistenz, etwas Standhaftigkeit, nicht diesen vorauseilenden Hofknicks.
Die große Frage ist allerdings, was denn da für eine Kunst kommen soll, wenn die Wokeness, die ja eigentlich nie wirklich realisiert wurde, endlich abgedankt hat? Nach den theatralischen "Kulturkriegen" will keiner einfach Judd, Baselitz, Richter aufhängen und dazu einen Zigarillo rauchen. Keiner will mehr diesen Community-Scheiß, Partizipation, fucking Sozialkunde.
Was ist, wenn der Reboot beginnt?
Was ist, wenn die Kathedrale abgerissen ist, der Reboot beginnt? Was, wenn die Zerstörung beendet ist, alle Wokies und Flüchtis im Gulag sitzen, es keinen Grund mehr für Wut und Grausamkeit gibt, sondern nur noch für das beste Selbst, für Exzellenz? Was dann, liebe dark lords? Wird dann in der Kunst nicht mehr über Identität, sondern über Klasse und Produktionsverhältnisse geredet? Wie sieht diese neue Kunst aus? Sie muss ja aufregend, herausragend, wahrhaftig sein, irgendwie auch zerstörerisch, stahlgewitterig, groß und übermenschlich, klug, technologisch, kämpferisch, elegant, wie damals im italienischen Futurismus vielleicht? Wie könnte das aussehen?
Da fällt mir das Buch eines großen jüdischen Intellektuellen dein, das mir Nanny Crabtree in der elften Klasse in der freien Schule während einer pubertären Krise geschenkt hat: Walter Benjamins "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", das er 1935 in seinem Pariser Exil verfasst hat. Darin schreibt er: "Der Faschismus versucht, die neu entstandenen proletarischen Massen zu organisieren, ohne die Eigentumsverhältnisse, auf deren Beseitigung sie hindrängen, anzutasten. Er sieht sein Heil darin, die Massen zum Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen. Die Massen haben ein Recht auf Veränderung der Eigentumsverhältnisse; der Faschismus versucht ihnen einen Ausdruck in deren Konservierung zu geben. Der Faschismus läuft folgerichtig auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. Der Vergewaltigung der Massen, die er im Kult eines Führers zu Boden zwingt, entspricht die Vergewaltigung einer Apparatur, die er der Herstellung von Kulturwerten dienstbar macht."
Ich ahne nichts Gutes, Nanny Crabtree. Mein amazing darling, nur noch einen Satz: "Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln in einem Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg". Oh Mann, vielleicht ist das tatsächlich die Kunst der Zukunft, denke ich, oder schon die der Gegenwart, vielleicht ist das das Größte, das der autoritäre Kapitalismus hervorbringen kann? "Keine Bange", ruft mir Nanny Crabtree von einer Wolke hinunter zur Erde: "Vielleicht ist es gerade jetzt an der Zeit, das Gegenteil von Biesenbachs Strategie zu versuchen, keine Betroffenheits-Memes, sondern Kunst, die eine neue, wirklich politische Sprache erfindet."