Isa Genzken wird 70

Immer höher hinaus

Niemand sonst arbeitet so radikal an der Neudefinition der Skulptur wie Isa Genzken – und so lange. Jetzt wird die Künstlerin und Stilikone 70 Jahre alt. Eine Würdigung von Elke Buhr

Am einen Ende der Parabel: eine schlanke, formal bis auf die Essenz reduzierte Holzskulptur. Das Ellipsoid, computerberechnet und perfekt, balanciert auf nur einem Punkt auf dem Boden. Es erobert den Raum, mit minimaler Masse und maximaler Eleganz. Am anderen Ende: eine Schaufensterpuppe vor einem Spiegel. Sie trägt eine mondäne Sonnenbrille, einen roten Strohhut, Jeans und eine eng taillierte schwarze Jacke, von der man sicher sein kann, dass sie mal im Kleiderschrank der Künstlerin hing.

Zwischen Isa Genzkens erstem Ellipsoid, 1976 in Düsseldorf entstanden, und dem Mannequin aus der "Schauspieler"-Serie von 2013 liegen mehrere Brüche, die so radikal sind, dass so manches andere Werk darüber in die Bedeutungslosigkeit zerbröselt wäre. Genzken war erst eine der wichtigsten deutschen Bildhauerinnen des 20. Jahrhunderts und hat sich dann komplett neu erfunden, um auch dem 21. Jahrhundert ihren Stempel aufzudrücken.

Was hält die Werkgruppen zusammen? Vielleicht ist die Antwort des Kurators Nicolaus Schafhausen die beste: "Isa Genzken ist eine absolute Stilikone. Das spiegelt sich in der Person wie in den Arbeiten: Alles ist Skulptur."

Eine, viele Isas. "Man sagt das über mich: dass ich viele Persönlichkeiten habe", erklärte Genzken 1996 in einem Gespräch mit dem New Yorker Künstler Danny McDonald. Die Mutter hatte einen Job in der Pharmaindustrie, war aber eigentlich Schauspielerin. Der Vater, ein Arzt, begeisterte sich vor allem für Musik. Und Genzken, 1948 in der Nähe von Lübeck geboren und einziges Kind ihrer Eltern, wurde schon von klein auf für Filme gecastet. Später arbeitete sie als Model. Sie verdiente gut, die Phase als mittellose junge Künstlerin konnte sie gleich überspringen. Stattdessen: Flugreisen, immer wieder mit der Mutter nach New York; sie liebte die Hochhäuser, von Anfang an war diese Stadt wie eine Skulptur für sie.

Genzkens Werk erschließt sich über ihr Umfeld

In Berlin wollte sie Film studieren, aber sie reichte Zeichnungen für die Aufnahmeprüfung ein, so eine wurde nicht genommen. Als Kunststudentin saß sie dann trotzdem viel mit den Berliner Filmstudenten im Café, in einer Clique mit Andreas Baader. Aber auch der junge Germanist Benjamin Buchloh war dabei, er wurde – nach dem Videokünstler Gerry Schum – ihr Freund. Mit Buchloh ging sie nach Düsseldorf, wo in den 70ern die Moderne in Deutschland am heißesten war. Buchloh lehrte an der dortigen Akademie, über ihn lernte sie die amerikanische Avantgarde kennen, befreundete sich mit Lawrence Weiner, Dan Graham. Und in der Galerie Konrad Fischer, in der sie bald ausstellte, begegnete sie dem Werk von Carl Andre, Sol LeWitt und anderen amerikanischen Minimalisten. Genzken selbst führte Performance-Anweisungen von Bruce Nauman aus.

"Jeder braucht mindestens ein Fenster" ist eine Serie leuchtender Epoxidharzskulpturen betitelt, die sie 1992 auf der Documenta 9 gezeigt hat: eine Öffnung zum Licht und als Verbindung zur Außenwelt. Gerade Genzkens Werk erschließt sich über das Umfeld, die Beziehungen der Künstlerin. Es sind meist Männer, mit denen sie sich austauscht – Frauen waren in ihrer Generation in der Kunstszene noch in der Minderzahl, also wollte sie sich mit den Männern messen, die den Ton angaben, den Diskurs bestimmten.

Deren Rolle ist mindestens ambivalent. Buchloh etwa: Er hat Genzken unterstützt, natürlich, und in großen Essays ihr frühes Werk als feministisches Statement beschrieben. Sie habe die Regel missachtet, nach der Frauen im traditionellen Feld der Bildhauerei nichts zu suchen hätten, und damit die misogynen Vorurteile der rheinischen Kunstszene herausgekitzelt, notierte er 1992.

Doch so ganz ohne paternalistische Ratschläge kam der damalige Minimal-Art-Verfechter wohl doch nicht aus, wie Isa Genzken 2006 in einem Gespräch mit Diedrich Diederichsen erzählte: "Benjamin Buchloh kritisierte meine Ellipsoiden, weil sie zu viel Inhalt hätten. 'Du hast bislang noch nicht einmal Carl Andre verstanden', sagte er zu mir. 'Natürlich habe ich ihn verstanden', antwortete ich. 'Aber ich kann wohl kaum versuchen, Carl Andre zu übertreffen.' Ich wollte doch gerade, dass der Inhalt in die Ellipsoiden zurückkommt, dass die Leute sagen, das sieht aus wie ein Speer oder wie ein Zahnstocher oder wie ein Boot."

Spektakulär an den Ellipsoiden war nicht nur die neue Narrativität und dass hier eine junge Frau Computer für ihre Kunstproduktion einsetzte, sondern auch, wie sie bereits damals die Skulptur mit den Mitteln der Fotografie erweiterte. 1979 zeigte Genzken im Museum Haus Lange in Krefeld ihre Ellipsoiden und Hyperboloiden zusammen mit abfotografierter Werbung für Hi-Fi-Anlagen. Nicht als Kritik an der "Kulturindustrie", wie der Adornit Buchloh meinte – es war ein Ausdruck von Bewunderung für die Hightech-Geräte. "Als ich damals die Werbeanzeigen von Hi-Fi-Anlagen fotografiert habe, dachte ich: Jeder hat jetzt so einen Turm zu Hause. Das ist das Neueste, das Modernste, was es zurzeit gibt. Also muss eine Skulptur mindestens genauso modern sein und das aushalten", sagte Genzken 2003 in einem Gespräch mit Wolfgang Tillmans.

Isa Genzken und Gerhard Richter

Später kombinierte Genzken ihre Skulpturen auch mit groß abgezogenen Fotos weiblicher Ohren. Sie habe diese Bilder von zufällig ausgewählten Frauen auf der Straße gemacht, sagte sie einmal. Doch auf einem ist auch ihr eigenes Ohr zu sehen – höchstwahrscheinlich aufgenommen von dem nächsten wichtigen Mann in ihrem Leben: Genzken wurde Meisterschülerin von Gerhard Richter.

Von 1979 an lebten sie zusammen, 1982 bis 1994 waren sie verheiratet. Die Gemeinsamkeiten sind größer, als auf den ersten Blick sichtbar ist, Hartnäckigkeit und Disziplin gehören dazu und eine dezidiert transatlantische Ausrichtung. "Mit Richter teilte sie den Anspruch, eine internationale Kunst zu entwickeln, aber eine sehr spezifische Kunstsprache – das fand ich immer interessant", sagt die österreichische Kunstmanagerin Sabine Breitwieser, die seit Mitte der 90er mit Genzken zusammenarbeitet und in ihrer Zeit als MoMA-Kuratorin den Anstoß zu der dortigen Genzken-Retrospektive gegeben hat. Breitwieser erzählt aber auch, Richter habe Genzkens Ellipsoiden als "Stricknadeln" bezeichnet.

Was war wohl sein Kommentar, als sie 1983, für die geometrischen Werke fand sie damals endlich Anerkennung, plötzlich ihren Stil radikal änderte und statt perfekter Oberflächen raue Gipsskulpturen produzierte? In der Kölner Kunstszene jedenfalls sollen die meisten den Kopf geschüttelt haben – was Genzken wenig interessierte, denn sie hatte ihre Gründe für den Wechsel. "Es störte sie, dass sie im Produktionsprozess von so vielen Leuten abhängig war und dass die Arbeiten so teuer und empfindlich waren", sagt Sabine Breitwieser. Lieber produzierte sie eine Weile lang nur mit ihren Händen, allein im Atelier. Auch die coolen Betonskulpturen, die danach kamen, halb architektonische Modelle, halb abstrakte Monolithen auf hohen Stahlträgern, konnte sie ohne großes Team selbst gießen.

Aufwendigere Projekte ist Genzken im Laufe ihrer Karriere immer wieder angegangen: So gibt es die Außenskulpturen, das riesige leere Rahmengestell mit dem Titel "Spiegel", das sie 1992 vor der Stadthalle in Bielefeld aufstellte, oder die acht Meter hohe, schlanke Rose, die auf dem Messegelände in Leipzig steht. Auch für architektonische Skulpturen wie die Epoxidharzwerke brauchte sie technische Hilfe.

Unabhängig, unbeirrbar, eigensinnig

Trotzdem arbeitet sie bis heute, inzwischen in einem Studio in Berlin-Charlottenburg, am liebsten für sich. Die Objekte, die sie für ihre Assemblagen benötigt, besorgt sie selbst. Ein Assistent kommt hinterher und fixiert die Stücke. "Es ist ihr ganz wichtig, dass sie nach ihrer Façon leben kann", meint Breitwieser. Diese Unabhängigkeit, das Unbeirrbare, den Eigensinn bewundern alle, die mit ihr gearbeitet haben. "Sie ist absolut selbstbewusst, was ihre Arbeit angeht", sagt auch Daniel Buchholz, Genzkens wichtigster Galerist. Seit über 30 Jahren schon vermittelt er konsternierten Sammlern die jeweils neueste Wende in Genzkens Werk.

Das erste gemeinsame Ausstellungsprojekt der beiden war 1987: Genzken platzierte ihre "Weltempfänger", stumme Radios aus Beton, im Schaufenster eines Musikgeschäfts. Damals waren die Antennen der Künstlerin weit nach außen gerichtet, sie war immer eine, die gern ausging, "schön, knabenhaft, sehr sichtbar", beschreibt sie Schafhausen, der Genzken als 17-Jähriger zuerst im Nachtleben kennenlernte, bevor ihre Werke seine Vorstellung davon prägten, was Skulptur eigentlich ist.

Anfang der 90er tauchte in Genzkens Fenster zur Welt eine neue Künstlergeneration auf, viele aus dem Umfeld der Buchholz-Galerie: Kai Althoff, mit dem sie wunderbar versponnene Filme machte, Wolfgang Tillmans, der ihr Porträt umstandslos neben das seiner mindestens eine Generation jüngeren Freunde an die Wand pinnte. 2001 stellte Genzken in einer Kollaboration für das Museum Ludwig zwei verspiegelte Kuben vor ein großes Bild des Fotografen, das sein Studio nach einer offenbar recht guten Party zeigt: zwei sehr unterschiedliche Wege zu dem Ziel, das Soziale in Form zu übersetzen.

Und vielleicht ist Tillmans’ Kunst eine Brücke, um den großen Einschnitt in Genzkens Werk Mitte der 90er-Jahre zu verstehen. Von der konstruierten Skulptur zur Assemblage von gefundenen Objekten: Dieser Paradigmenwechsel hat auch mit einer Suche nach Realismus zu tun, wie ihn die Fotografie ermöglicht. Wenn Genzken Objekte der Massenkultur, Puppen, Design­objekte, Kleidungsstücke und Modelle in ihre filmsetartigen Szenarien und Installationen einbezieht, dann sucht sie neue Möglichkeiten der Verbindung mit der Welt, ihre Kunst wird Teil des Realen.

Dokument eines Absturzes

Das Werk, das die Zäsur markiert, ist "I Love New York, Crazy City" (1995/96), ein dreiteiliges Collagebuch. Es legt die biografischen Brüche offen, mit denen Genzken lebt. Die Künstlerin leidet unter einer bipolaren Störung mit manischen Phasen, auf die Depressionen folgen. "I Love New York, Crazy City" ist das Dokument eines Absturzes: Genzken, frisch von Gerhard Richter getrennt, taumelt durch die Stadt in einem Strudel von Kontrollverlust und Chaos, verteilt 100-Dollar-Noten, um anschließend die Freunde um einen Fünfer anzupumpen.

Sie verliert alles, Geld, Pass, ist aggressiv, verprellt Galeristen, ihren Anwalt – sein verärgerter Abschiedsbrief ist abgedruckt –, landet an Orten, an die sich sonst niemand traut. "Ich habe mich gewundert, dass du das überlebt hast – du hast es bis zu den Grenzen getrieben", sagt der Künstler Danny McDonald zu ihr, das Gespräch wird Teil des Buchs. Schon mehrfach hatte Genzken in ihren Skulpturen den Modernismus ins Ruinöse getrieben, jetzt zerschneidet sie die Hochhäuser New Yorks und die Dokumente des eigenen Lebens und heftet alles notdürftig mit breitem Klebeband wieder zusammen, zu fast filmischen Montagen.

Doch nach der "Crazy City" folgt ein Neuanfang in einer anderen Stadt: Genzken geht erneut nach Berlin, mitten in den künstlerischen Aufbruch der Nachwendezeit hinein. In den folgenden Jahren formuliert sie ihr neues Vokabular aus, in der großen Serie "Empire/Vampire" zum Beispiel, in der Plastikfiguren wie in Filmsets in Krieg und Katastrophen stecken, oder in "Oil", ihrem Beitrag für den deutschen Pavillon in Venedig 2007, zu dem sie Nicolaus Schafhausen eingeladen hatte. Dafür kombiniert sie billige Baumarktmaterialien mit teurer Designermode, nutzt Spielzeugfiguren, Comicbilder und Poster.

Modernistische Architektur bleibt eine ihrer Passionen: In den Spiegelfolien ihrer Installationen blitzen die gerasterten Glasfassaden des International Style auf, in den "New Buildings for Berlin“"verkantet sie leuchtendes Glas zu Hochhausmodellen wie aus einem Traum von Mies van der Rohe, und auch für den Ground Zero in New York entwickelt sie einen eigenen, gleichnamigen Entwurf: im Zentrum eine Diskothek, 24 Stunden am Tag geöffnet. Tanzen statt leiden.

Diese komplexen Installationen und Environments wirken nur vordergründig so, als habe der Zufall seine Hände mit im Spiel. Dahinter steckt ein sehr präzises Raum- und Materialempfinden, "die Rigidität aus den früheren Jahren ist immer noch da", sagt die Künstlerin 2005 zu Wolfgang Tillmans.

Für Laura Hoptman, die 2013 die Retrospektive am MoMA kokuratierte, steht Genzken mit ihrem Wechsel zur Assemblage an der Spitze eines globalen Trends: "Die Wildheit, Freiheit, Gewalttätigkeit, der Outlaw-Status zusammen mit der formalen Intelligenz, die in diesen Assemblagen stecken, hatten eine enorme Wirkung auf die heutige Generation von internationalen Künstlern." Nicht zuletzt der Mut, die Medien und Techniken frei zu wechseln, macht Genzken zum Role-Model. "Sie ist kompromisslos in einem Ausmaß, wie ich das nie sein könnte", sagt zum Beispiel der Künstler Simon Denny.

Was sie antreibt, hat Genzken 2006 am Ende des Gesprächs mit Diedrich Diederichsen formuliert: "Humor, Eros, Liebe und Überraschung sind die Zukunft der Kunst. Wie soll ich enden? Viele Leute sind unglücklich, und ich finde, das nervt."