Fotos aus Ischgl

Delirium Alpinum

Alptraum Party-Tourismus: Der österreichische Fotograf Lois Hechenblaikner dokumentierte die Abgründe der Après-Ski-Ekstase im mittlerweile berüchtigten Urlaubsort Ischgl

Noch vor wenigen Monaten war die Stadt Ischgl im Tiroler Paznaun-Tal vor allem ein Begriff für Ski- und vor allem Après-Ski-Begeisterte. Träumerisches Schneegestöber und von dichten Schneedecken umhüllte Berge gehören aber nicht zu Ischgl-Assoziationen, ganz im Gegenteil: Der hiesige Tourismus lebt von Zügellosigkeit und der ausnahmslosen Duldung des Exzesses. "Was in Ischgl passiert, bleibt in Ischgl" - was auch mit dem Gedächtnisverlust zusammenhängen kann, der mit übermäßigem Alkoholkonsum einhergeht. Und ab einem gewissen Pegel ist auch unklar, ob hier noch "Après Ski" oder "Abriss Ski" gegrölt wird.

Seit März 2020 ist die Tiroler Pistenparty aber vorbei: Als Corona-Infektionsherd des deutschsprachigen Raums hat Ischgl in den letzten Monaten ausschließlich Negativschlagzeilen geschrieben. Nachdem hier erste Coronafälle bekannt wurden, sei der Ski-Ort möglicherweise nicht schnell genug gesperrt worden, weswegen der österreichische Verbraucherschutzverein derzeit Fälle für eine Sammelklage zusammenträgt, um gegen das vermeintlich nachlässige Krisenmanagement vorzugehen. Ein 1000-seitiger Polizeibericht und die Tiroler "Corona-Chronologie" sollen im Rahmen der Ermittlungen Auskunft darüber geben, wer wann Meldefristen nach dem Infektionsschutzgesetz überschritten haben könnte. Ischgl-typisch gilt also die Devise: Je mehr, desto besser!

Der Fotograf Lois Hechenblaikner - selbst gebürtiger Tiroler - dokumentiert seit 23 Jahren die Enthemmung und Zügellosigkeit dieser Urlaubswelt. Nach "Winter Wonderland" und "Hinter den Bergen" folgt der dritte Bildband mit Impressionen turbokapitalistischen Kontrollverlustes am Abgrund des Kalkulierbaren. Als eine Art "visueller Geigerzähler des touristischen Wahnsinns" bezeichnet der Künstler sein Buch im BR-Interview. Seine Fotos: Dokumentationen einer schneller werdenden Spirale, die den Wandel von einem ärmlichen Bauerndorf zum Partytourismus abbildet: In einem Motiv quillt fässerweise Alkohol aus dem Bauch einer Red Bull Lagerhütte, in einem anderen thront mitten im Schneegebiet unter sich kreuzenden Skilifts ein roter Porsche auf einem Showcase-Sockel.

Körperverletzungen, Schlägereien, Balkonstürze

Im Schnellfeuer besorgniserregender Botschaften kommt man fast nicht mal auf die sexistischen oder kulturell appropriierenden Gesten der abgebildeten (und sich selbst inszenierenden) Protagonisten zu sprechen - die Gummipuppe auf der Gehhilfe oder die als indigenes Volk kostümierte Herrentruppe sind halt einfach da.

Im Anhang des Bildbandes wird dieses fotografische Soziogramm ergänzt durch ein Kompendium von Pressemitteilungen der Landespolizeidirektion Tirol für den Zeitraum November 2018 bis Februar 2019. Darunter Körperverletzungen, schwere Körperverletzungen, Schlägereien und diverse Balkonstürze. Bereits seit Jahren verwischen in Ischgl und manchen benachbarten Skigebieten die Grenzen zwischen berechenbarem Bergtourismus und rechtsfreiem Saufgelage. So leidet nicht nur ein hiesiges Kulturerbe unter den winterlichen Besuchen sondern die Landschaft, das sozial Hinnehmbare und eine gesunde Grenze zum Eskapismus.

Besonders deutlich wurde das im Zusammenhang mit dem sich ausbreitenden Virus Covid-19. Weder im tiefsten Tal, noch auf dem höchsten Berg kann man dieser komplexen, kausalen Realität entfliehen. Also gilt auch in Zukunft: Man sollte es nicht regelmäßig auf die Spitze treiben.