Jack Whitten

"Ich glaube an die Macht der Malerei"

Seit 50 Jahren führt der New Yorker Künstler Jack Whitten das Erbe des Abstrakten Expressionismus mit immer neuen Erfindungen ad absurdum. Die verdiente Anerkennung hat er dafür nicht bekommen. Das ändert sich jetzt: Plötzlich steht der Afroamerikaner im Fokus des Interesses

"Du bist doch eine unerschöpfliche Quelle an Geschichten, Jack", sagt der Maler Ross Bleckner vergnügt und tätschelt seinem Kollegen Jack Whitten die Schulter. "Und das Beste daran: Mit deinen 77 Jahren bist du noch jung genug, um dich an alles zu erinnern." Bleckner, selbst 68 Jahre alt, ist nach der sehr gut besuchten Eröffnung von Whittens Ausstellung am Vorabend noch einmal ins New Yorker Galerienviertel Chelsea gekommen, um sich die neuen Bilder in Ruhe anzusehen: großformatige, abstrakte Malerei in dieser eigenartigen Mosaiktechnik, die heute wirkt wie ein lang vermisstes Bindeglied zwischen Abstraktem Expressionismus und der jüngeren afroamerikanischen Malerei eines Mark Bradford, die in diesem Jahr im US-Pavillon der Venedig-Biennale angekommen ist.

Es ist Jack Whittens erste Ausstellung bei der weltweit operierenden Galerie Hauser & Wirth, es folgt eine Soloschau in deren Dependance in London. So ein großes Publikum wie heute hatte Whitten selten; eine Einzelausstellung 1974 im Whitney Museum markierte lange den Höhepunkt einer Karriere, die doch schon ein halbes Jahrhundert andauert. Bis 2007 wurde der Maler noch nicht einmal von einer nennenswerten Galerie vertreten. Es war ausgerechnet der Deutsche Udo Kittelmann, der das einfädelte: Ein Besuch im Atelier des Malers in Queens enthusiasmierte den späteren Direktor der Nationalgalerie Berlin dermaßen, dass er noch am selben Tag durch New Yorker Galerien lief und das Hohelied Whittens sang. Alexander Gray Associates habe, so sagt jedenfalls Kittelmann, erst auf seine Empfehlung hin den Maler ins Programm genommen. Es folgten mehrere Retrospektiven in großen US-Museen und ein erster Katalog überhaupt. 2019 wird auch Kittelmann eine umfassende Schau im Hamburger Bahnhof in der deutschen Hauptstadt zeigen.

Die Freude über die viele Aufmerksamkeit ist Jack Whitten am Morgen nach der Eröffnung anzumerken. Mit seiner gemütlichen Strickjacke und dem verwegenen Bandana-Halstuch sieht er tatsächlich aus wie ein Geschichtenerzähler aus einem Kinderfilm. Er scherzt, er nimmt sich Zeit für lange Ausführungen, er weiß, dass er für Bescheidenheit und für Angeberei gleichermaßen keinen Grund hat. Es geht um die Arbeit, und Arbeit ist Technik. Also sprudeln aus der "unerschöpflichen Quelle" auch kaum Geschichten von seinen persönlichen Begegnungen mit großen Afroamerikanern wie Martin Luther King jr., James Baldwin, Miles Davis, Thelonious Monk oder Barbara Jordan, wenig über Treffen mit Malergiganten wie Willem de Kooning, Franz Kline oder Philip Guston. Die Personen, die Jack Whitten in seinen Ausführungen am häufigsten erwähnt, sind der Erfinder und Pigmenthersteller George Washington Carver, der New Yorker Farbenfabrikant Leonard Bocour und ein gewisser Dr. Georg Kremer aus dem baden-württembergischen Aichstetten. Der Chemiker leitet dort die Firma Kremer Pigmente, und Whitten liebt es, seine Erläuterungen durch klangvolle Namen aus der Produktpalette dieser Farbmühle zu würzen: Malachite Arabian, Epidote, Pinkcolor Deep, Spinel Black …

"Meine Bilder sind gemacht, nicht gemalt"

Es ist diese Liebe zum Material, zu Experiment und Innovation, die in Whittens Werk sichtbar wird. "Ich benutze für meine Arbeit nicht einmal das Wort 'malen', sondern 'machen'. Diese Bilder sind gemacht, sie sind konstruiert. Und dennoch ist es Malerei, weil die Werke mit Farbe entstehen. Es ist Farbe auf Leinwand. Es ist das, was passiert, wenn Gestus auf Prozess trifft." Beim Rundgang durch die Ausstellung – Ross Bleckner musste inzwischen weiter – ist Jack Whitten bei seinen "Quantum Wall"-Bildern angekommen: einer Serie aus fast zweieinhalb Meter breiten Leinwänden, die mit glasartigen, farbigen Acrylsteinen beklebt sind. Das Schimmern der dunklen Tesserae (wie Mosaiksteine fachmännisch heißen) und die durch die Fugen gebrochene Flächigkeit erzeugen ein kaleidoskophaftes Flimmern, ja, ein beinah"flüssiges" Bild, das sich je nach Blickwinkel entscheidend ändert.

Aber nicht nur ihrer Erscheinung nach sind die Bilder rätselhaft, auch der Herstellungsprozess ist ungewöhnlich. Einen ersten Prozessschritt nennt Whitten "Konstruktion": "Ich lasse auf einer Holzplatte mehrere Schichten Acrylfarbe übereinanderlaufen und zu einer Platte aushärten, die man anheben kann." Diese Platte zertrümmert oder zerschneidet er dann im zweiten Schritt ("Dekonstruktion"), die Bruchkanten erzeugen auf dem fertigen Bild später eine eigene aus Zufall und Künstlerwillen gesteuerte Geometrie. Dann der dritte Schritt: die "Rekonstruktion", in der die Acrylfarben-Fragmente auf einer Leinwand neu zusammensetzt werden, wobei Whitten wiederum Acryl als Kleber benutzt.

Die intellektuelle und bildnerische Energie scheint in den Werken aus allen Richtungen zu kommen: aus den Darstellungswelten antiker Mosaike, aus den Instinkten des Abstrakten Expressionismus, aus dem Jazz, aus der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung und nicht zuletzt – das deutet der Titel der Reihe an – aus wissenschaftlichen Weltanschauungsmodellen wie der Quantentheorie. Jack Whitten scheint das alles mühelos zu umfassen – was auch mit seinem Lebenslauf zu tun hat.

Als jemand, der 1939 in Bessemer, Alabama, geboren wurde, war er während seiner gesamten Kindheit und Jugend in den Südstaaten mit Rassentrennung und heute unvorstellbarer Diskriminierung konfrontiert. Das Kunstmuseum im nahen Birmingham etwa durfte er als Schwarzer nicht betreten. Als junger Mann besuchte er Vorbereitungskurse für ein Medizinstudium und ging auf die Kadettenschule, um Militärpilot zu werden. In einem Interview mit dem Kurator Robert Storr erzählte Jack Whitten, wie er eines Tages mitten im Unterricht – man war gerade dabei, den korrekten Ablauf eines Bombenabwurfs zu erläutern – aufstand und rief: "Was zur Hölle mache ich bloß hier?"

Whitten hatte künstlerische Ambitionen. Früh arbeitete er mit seinem Stiefvater, einem Schildermaler, zusammen (der, so deutet Whitten nur an, als Opfer rassistischer Gewalt ums Leben kam), und auch in seiner Schule erledigte er alles, was an Gestaltung und visueller Kommunikation in der Einrichtung so anfiel. Also besuchte er die Kunsthochschule in Baton Rouge, Louisiana. Im Frühjahr 1960 kulminierte die schwarze Bürgerrechtsbewegung in heftigen Protesten. Whitten, der bereits vorher unter anderem durch Begegnungen mit Martin Luther King jr. heftig politisiert worden war, nahm an einem Protestmarsch teil, der von Redneck-Gangs und Polizeikräften brutal angegriffen wurde. Für Whitten wurde dieser Marsch zum Fanal: "Ich wusste, dass ich so etwas nicht noch einmal durchstehen würde." Aus Wut und Verzweiflung schmiss der Student Bücher, Kleidung und andere Dinge in einen See, der sich auf dem Campus befand. Er wollte abschließen mit seinem Leben in den Südstaaten – und bewarb sich an der Cooper Union im liberalen New York. Er nahm einen Greyhound-Bus, quartierte sich im Keller bei einem Onkel ein und machte einen Aufnahmetest an dem renommierten College in Manhattan.

An der Cooper Union war er der einzige schwarze Kunststudent, und zum ersten Mal in seinem Leben saß er überhaupt mit weißen Menschen in einem Klassenzimmer, wurde von weißen Lehrern unterrichtet. Alles war neu, die Sixties hatten begonnen! In Downtown Manhattan besuchte der 21-Jährige Jazzclubs – Whitten spielt selbst Saxofon – und traf auf eine lebendige und doch kleine Künstlerszene, der auch Ross Bleckner angehörte. Der Abstrakte Expressionismus verlor zwar gerade an Schubkraft, aber viele Heroen der Bewegung waren noch präsent: "Willem de Kooning war einer der ersten Künstler, die ich in New York traf. Ich folgte ihm wie ein Hündchen." Und zwar nicht nur durch die Bars, sondern auch in der Malerei: "Eines Tages kam jemand zu mir ins Atelier und sagte: 'Ein paar schöne De-Koonings hast du hier.' Und da wusste ich, dass ich etwas ändern muss."

Jack Whitten experimentierte in viele Richtungen – ein langes Malerleben lang. "Es gibt kein eigentliches Ziel", sagte der Kunsthändler Allan Stone zu ihm, das war bei seiner ersten Ausstellung. Es gibt kein Ziel, und deshalb viele Überraschungen. Eines aber hat sich bei Jack Whitten nie geändert: wie er das Gestische, das doch beim Abstrakten Expressionismus im Mittelpunkt stand, durch einen Prozess des handwerklichen, besonnenen Machens dämpft und bricht.

Mitte der 60er-Jahre trug der noch junge Maler die Farbe mit Tüchern auf, verwischte sie, fügte Pigment hinzu, deckte die Komposition erneut mit einem Tuch zu, imprägnierte so geisterhafte, neblige Figuren auf das Bild. Acryl war damals noch neu auf dem Markt und versprach ungekannte Möglichkeiten. Whitten baute sich große Holzkonstruktionen, die dosenweise Farbe aufnehmen konnten, und Instrumente, um in den Acrylpools dann rühren oder noch feuchte Farboberflächen harken zu können. So schuf er Kompositionen, die in Abbildungen an die später entwickelten Rakelbilder von Gerhard Richter erinnern: ein Farbspektakel aus Schlieren, Schichten und immer weiteren Schichten.

"Wir Maler reagieren auf die Gegenwart"

Seit Ende der 60er-Jahre reist Whitten durch die Mittelmeerregion und studiert antike Mosaike. Jeden Sommer verbringt er auf Kreta (seine Frau ist Amerikanerin griechischer Abstammung), sitzt stundenlang in der bronzezeitlichen minoischen Siedlung Phaistos und arbeitet an eigenen Bodenmosaiken aus Marmor und Steinen, die auf einem Betonfundament – schließlich sollen sie auch etwaige Erdbeben überleben – vor seinem Sommerhaus entstehen. In diesen Sommermonaten schafft er auch Skulpturen, die weitgehend unbekannt sind. "Wie in meinen Bildern schneide ich auch in der Bildhauerei Licht zurecht, poliere Licht, schichte Licht. Die Geschichte der Malerei liegt im Licht. Das Licht in Bildern und Skulpturen kommt aus dem geografischen Ort, an dem der Künstler arbeitet, aus seiner emotionalen und symbolischen Situation." Auch in dieser Ausstellung hier bei Hauser & Wirth ist eine Skulptur zu sehen; es ist das erste Mal, dass Jack Whitten sein bildhauerisches Werk öffentlich zeigt: ein aufgesockeltes, modelliertes, klingenförmiges Objekt, an das Bauelemente aus dem Innern eines Computers angedockt sind.

Überhaupt verweist Whittens ganzes Werk bei aller Verwandtschaft zu antiker Kunst ganz unmittelbar auf die Gegenwart: die Tesserae etwa auf Pixel digitaler Bilddateien, die Geometrie jüngerer Bilder auf QR-Codes und Benutzeroberflächen technischer Geräte. "Ja, wir Maler reagieren auf die Gegenwart, auf Symbole, die sich anbieten, sei es Technologie, Natur, Sexualität, autobiografisches Material, Spiritualität, Politik. Das alles stimuliert die Vorstellungskraft von Künstlern. Ich meine: Was passiert in der Mikrobiologie! Beim Bioengineering! Heutzutage operieren wir auf dem Nanolevel!" Jack Whitten pfeift durch die Zähne und lacht.

Bei seiner Zeitzeugenschaft geht es ihm jedoch keineswegs um Narration. Auch seine "Black Monolith"-Bilder, mit denen er seit den späten 60ern afroamerikanischen Größen Tribut zollt, sind keine Porträts im klassischen Sinne. Ein neues Bild aus der Serie mit dem Titel "Birth of Muhammad Ali" hängt auch in der Ausstellung: Mit etwas Fantasie könnte man in dem Mosaik einen Kopf auf einem Torso erkennen, aber ist es wirklich eine Gestalt? "Der Trick ist, den Gegenstand nie in einer wortwörtlichen Übersetzung auszuliefern. Es ist abstrakter Symbolismus. Ich bringe eine symbolische Geste ins Gemälde. Das ist das Schwerste an meiner Arbeit." Vielleicht ist es ja tatsächlich eine Geburt, die auf dem Muhammad-Ali-Bild dargestellt wird: Der Kopf des späteren Boxers Cassius Clay, der in seinem Leben selbstbestimmt als Muhammad Ali noch einmal politisch und spirituell wiedergeboren wird, schaut schon aus dem Leib der Mutter und sagt der Welt Hallo.

"Haut aus Farbe auf einer Oberfläche"

Inzwischen stehen wir vor den drei "Portal"-Bildern, die laut ihrem Urheber "Tore zu anderen Dimensionen" sind: kleiner als die anderen Arbeiten hier im Raum, aber auch dichter, jedes mit einem opaken, schwarzen Kreis aus Acryl im Zentrum, wie ein Wurmloch, das ­einen durch die Leinwand an andere Orte saugt. Vielleicht drückt sich in Whittens Malerei doch auch eine Erlösungserwartung aus, die die ­afroamerikanische Kulturgeschichte – von Gospel bis Afrofuturismus – durchzieht: die Sehnsucht nach einem Jenseits, nach dem Weltraum –"Space is the Place" –, nach einem Ort, an dem Schwarzsein nicht Tragik bedeutet. Jack Whitten selbst relativiert: Die "anderen Dimensionen" seien nicht so sehr spirituell gemeint, sondern wir reden hier von Astrophysik, von realen Dingen also. Auch über politische Utopien möchte er nicht sprechen, aus einem "amerikanischen Pragmatismus" heraus.

Aber übersteigen denn Erkenntnisse wie die aus der Astrophysik, der Nanotechnologie oder Quantentheorie nicht jede künstlerische Vorstellungskraft? Was bleibt da aber noch der uralten Malerei zu tun? "Selbst in unserer durchtechnologisierten Zeit glaube ich daran, dass die Kunst wirklich bedeutende Unterschiede machen kann", sagt Whitten. "Ich glaube an die Kraft der Malerei. Es geht um eine Haut aus Farbe auf einer Oberfläche. Das ist alles, und es ist doch so viel.“ Er schaut zufrieden auf ein "Portal"-Bild und fügt dann hinzu: "Malerei ist ein einziges Rutschen und Schlittern, aber wenn es passiert, dann passiert es."

"You make it happen" – "Du machst, dass es passiert, Jack", mischt sich ein Besucher ein, der etwas abseits dem Gespräch gelauscht hat. Es ist der Maler Richard Jacobs. In letzter Zeit ist es wirklich schwierig, Jack Whitten mal für sich zu haben.