Jahresrückblick: Kunstberichterstattung

Verschanzt hinter alten Gewissheiten

2017 verschafften sich Stimmen Gehör, die lange marginalisiert wurden. Doch Machtbesessenheit und das eitle Selbstverständnis vieler Kunstberichterstatter verhindern eine Offenheit für Neues oder gar Zweifel an der eigenen Position. Ein Kommentar

"Recherche ist Meinungsschwäche" – mit dieser Maxime versicherte man sich in westdeutschen Feuilletonredaktionen traditionell der eigenen Omnipotenz. Warum vor die Tür gehen, wenn man doch vom Schreibtisch aus die ganze Welt erklären kann? Es wurde sehr viel geraucht, auch getrunken, aber eher selten das Fenster aufgemacht.

Das Kunstjahr 2017 bot eigentlich reichlich Gelegenheit zum Durchlüften: Adam Szymczyk vollzog mit seiner Documenta 14 im krisengeschüttelten Athen eine Neupositionierung der Weltkunstschau. Und auch an verschiedenen Kunstwerken entzündeten sich Debatten aus bislang vernachlässigten Perspektiven: Aktivisten kritisierten ein auf der Whitney Biennale gezeigtes Gemälde von Dana Schutz, das eine berühmte Fotografie des Teenagers Emmett Till adaptierte, der 1955 von zwei Weißen brutal getötet worden war. Auch gegen Sam Durants Nachbau eines Schafotts, auf dem im 19. Jahrhundert 32 Mitglieder des Dakota-Stamms ermordet wurden, formierte sich Protest.

Teils waren die Debatten überzogen, aber sie warfen grundlegende Fragen auf. Wann wird aus Aneignung Ausbeutung? Wer darf für wen sprechen? In welchem historischen und politischen Kontext steht der Kampf um Repräsentation? Was wissen wir über diese Geschichte? Wie groß ist der Schmerz?

Doch statt diesen Fragen nachzugehen, verschanzte man sich in vielen deutschen Feuilletons von "FAZ" bis "Zeit" lieber hinter alten Gewissheiten, wetterte gegen "Political Correctness" und "Zensur" und sprach süffisant vom "Tanz der Tugendwächter".  

Mit den ausgelutschtesten Kant- und Schiller-Zitaten wähnt man sich in Sachen Toleranz und ästhetischer Theorie perfekt ausgestattet, bemüht Universalismen wie die "Autonomie der Kunst", statt nach den Grenzen des eigenen Universums zu fragen. Was fremd ist, wird für irrelevant erklärt, wer auf moralische Widersprüchlichkeiten hinweist, wird als "Gutmensch" diffamiert. Das kommt rhetorisch geschliffen daher, bewegt sich inhaltlich aber komplett auf der Rechtsaußen-Bahn: Erst will die Political Correctness aus dem Weihnachtsmarkt ein "Winterfest" machen, dann raubt der Szymczyk unsere Documenta aus dem schönen Kassel und jetzt nehmen sie uns auch noch die Freiheit der Kunst!

Was man von der Kunst aber angeblich erwartet – Erschütterung unserer Grundfesten –, ist in Wahrheit nur schwer ertragen. Machtbesessenheit und das eitle Selbstverständnis als Welt- oder zumindest Kunst-Erklärer verhindern eine Offenheit für Neues oder gar Zweifel an der eigenen Position. Auch wir beschrieben im Monopol-Magazin die Dana-Schutz-Debatte zunächst als "hysterisch". Und als die Kandidaten für den Preis der Nationalgalerie bekannt gegeben wurden, dichteten wir "Der Preis ist weiblich" – eine Überschrift, die uns nach dem Protestbrief der nominierten Künstlerinnen gegen stereotype Berichterstattung hoffentlich nicht noch einmal unterlaufen wird.

Es ist kein gutes Gefühl, Privilegien einzubüßen, aber blicken wir den Tatsachen ins Gesicht: 2017 verschafften sich Stimmen Gehör, die lange marginalisiert wurden. Sie werden nicht verstummen, denn ihnen gehört die Zukunft. Nehmen wir es als Chance, räumen wir unsere Schwäche und Ratlosigkeit ein, stellen wir uns auf einen fortlaufenden Lernprozess ein, statt mit immer krasseren, immer schneller rausposaunten Meinungen Originalität und Deutungshoheit zu simulieren.

Eine höhere Sensibilität für unterschiedliche Denk- und Lebensweisen meint ja nicht, dass wir perfekt sein müssen, sondern im Gegenteil: eine Relativierung der moralischen Ansprüche. Wir alle machen Fehler, wir alle müssen lernen, und Zuhören ist manchmal besser als tausend Worte.