Jean-Luc Mylaynes Vogelbilder in Hannover

Amsel, Drossel, Fink und Star

Philosoph mit Kamera: Jean-Luc Mylaynes Fotografien von Vögeln sind Wasserproben aus dem ewigen Fluss der Zeit. Jetzt sind die Bilder in Hannover zu sehen

Immer dasselbe: Nahrung suchen, Nester bauen, durch die Gegend fliegen. Doch Spatzen, Finken oder Meisen kennen keine Monotonie. Tieren überhaupt fehlt die Grunderfahrung der Langeweile, die die französischen Existenzialisten als Voraussetzung für Selbstgewissheit erkannten, für das Menschsein schlechthin. Wer sich anödet, den quält die Zeit. Grund zum Grübeln.

Jean-Luc Mylayne ist Philosoph und Künstler. Er fotografiert Vögel, aber sein eigentliches Thema ist die Zeit – ausgerechnet das Phänomen, das von der Fotografie seit jeher auf den Kopf gestellt wird: Fotos lösen einen winzigen Ausschnitt aus dem Kontinuum, sind der Wirklichkeit entkoppelt, aus der Zeit gefallen. Sie finden in die Zeit zurück, indem sie betrachtet, in eine Reihe und einen Reflexionszusammenhang gestellt werden. Das transformiert die Bilder, die sich – Fragment an Fragment – nun gegenseitig beeinflussen.

Wie Nomaden reisen der 1946 in Amiens geborene Fotograf und seine Frau Mylène – die ihm den Künstlernamen gab – in Europa und Amerika auf der Suche nach den Motiven umher. Mylayne nimmt keine majestätischen Greifvögel in den Blick, sondern eher unauffällige Singvögel wie Sperlinge, Drosseln, Zaunkönige.

Mischung aus stoischer Geduld und Wachsamkeit

Um ihren Lebensbereich zu zeigen, verzichtet er auf lange Brennweiten. Normal- oder Weitwinkelobjektive gewährleisten Distanz zu den Wesen, die teils eine exponierte Stellung in den Kompositionen einnehmen, sich teils jedoch kaum von ihrem Umfeld abheben. Mylayne, der Orte zwischen dünn besiedelter und freier Natur bevorzugt, interessiert sich nicht für klassische Tierporträts.

Frappierende Wirkung entfalten die dokumentierten Begegnungen zwischen dem Künstler und den scheuen Tieren, die sich nicht nur an den Menschen, sondern auch an dessen umfangreiche Apparatur gewöhnen müssen: eine Groß- und eine Mittelformatkamera, Lampen und Blitzgeräte.

Mylaynes Geheimnis liegt in einer Mischung aus stoischer Geduld und Wachsamkeit. In drei Jahrzehnten entstanden kaum 400 Fotos, verständlicherweise, denn jeder take ist auf einen individuellen Vogel ausgerichtet. Mit der Akribie eines Ornithologen studiert Mylayne die Bedingungen seiner Objekte, legt wie ein Filmregisseur eine Location, Tageszeit und Einstellung fest und harrt aus – bis sein Akteur die erwartete Position einnimmt, sich also auf einen vorbestimmten Ast setzt oder den Bildkader in erwünschter Höhe durchfliegt.

Malerische Qualität

Mylayne verkauft seine Inszenierungen strikt als Unikate, von jedem Negativ wird nur ein großformatiger Abzug angefertigt. Im Titel verweist er auf die Rahmenbedingungen, indem er die Nummerierung um den Hinweis auf die Aufnahmephase ergänzt. Die ausführlichen Titel sind vor allem deshalb bedeutsam, weil sie den voreiligen Eindruck widerlegen, dem Künstler komme es auf den moment décisif an, ein Konzept, das sein legendärer Landsmann und Kollege Henri Cartier-Bresson (1908–2004) perfektionierte.

Dessen Überzeugung, jeder Fakt könne sich in einem entscheidenden Moment enthüllen, wird in Mylaynes Augenblicksbildern geradezu auf die Probe und stets infrage gestellt.Tatsächlich sehen wir vom Fotografen schon vorher entschiedene Momente, die sich dank des berechneten Tierverhaltens schließlich erfüllen.

Verglichen mit Cartier-Bressons aktionistisch die Zeit verdichtenden Menschenbildern, wirken Mylaynes Foto wie Wasserproben aus dem ewigen Fluss der Zeit. Nüchtern wirken sie nie: Ihre malerische Qualität erzeugt der Künstler mit speziellen Vorsatzlinsen, die Schärfe-Unschärfe-Verlagerungen in einer einzigen Aufnahme ermöglichen.

Zwischen arrangierter und dokumentarischer Fotografie

Damit lenkt und verlangsamt er unsere Betrachtung. Er inszeniert den Blick. Die Grenze zwischen staged und straight, zwischen arrangierter und dokumentarischer Fotografie verschwimmt.

Ohnehin entzieht sich Jean-Luc Mylaynes fotografisches Schaffen jeder Begriffsschlinge. Meditation ist der Weg zu diesen Bildern, was für den Betrachter wie den Fotografen selbst gilt. Verkörpern nicht die Vögel, reaktionsschnell und voller Unruhe, das dynamische Prinzip des Lebens, über das Henri Bergson nachdachte?

Wenn der französische Philosoph in seiner Abhandlung "L’évolution créatrice" (1907, auf Deutsch: "Die schöpferische Entwicklung") fordert, der Mensch solle die Fesseln des Verstandes ablegen, um kraft der Intuition in die durée, die "rein kontinuierliche Zeit", zurückzutauchen, scheint er Jean-Luc Mylaynes Kunst vorwegzunehmen.