Staub als Kunst

In jeder Wollmaus steckt die ganze Welt

Staub aus dem Louvre in Paris, ein paar Krümel aus dem Petersdom und eine Fluse von der Chinesischen Mauer: Was viele für lästigen Schmutz halten, ist für den Rheinländer Wolfgang Stöcker Kunst 

Wer seinen Staubsaugerbeutel entsorgt, wirft wichtiges Kulturgut weg: sakralen Staub, Kulturstaub, politischen Staub, Naturraumstaub und kulinarischen Staub. Hoheitsvolle Namen für das, was viele einfach wegwischen. Für Wolfgang Stöcker sind die Flusen nun mal Schätze. Rund 600 Proben hat er aktuell in seinem "internationalen Staubarchiv" und sortiert sie nach den genannten Kategorien. Gemeint sind Funde aus Kirchen, Museen, Vulkanen und Weinkellern. Jedes Stäubchen ist sorgfältig dokumentiert. Bei allen ist die eindrucksvolle Provenienz festgehalten – darunter das Empire State Building in New York, das Opernhaus Sydney und die ägyptischen Pyramiden. 

Auf den ersten Blick erscheint die Sammlung ein wenig skurril. Zu viele Wortspiele liegen auf der Zunge: "Eine Sammlung macht sich aus dem Staub" oder: "Ein paar besondere Funde hat der Sammler da abgestaubt." Aber die feinen Partikel haben einen gewissen Wert: "Der Staub ist nicht Selbstzweck und nicht ohne Bedeutung", sagt Wolfgang Stöcker. "Mit Staub fängt alles an und hört alles auf. Staub ist Ende und Anfang. Dazwischen spannt sich unser komplettes Konstrukt von Kultur und Kunst."

In Wollmäusen steckt beispielsweise ein beachtlicher Teil der Welt. Sie sind eine Zusammensetzung aus Textilfusseln, Pollen, menschlichen Hautschuppen, Haaren, Sand und Ruß. Die organischen und anorganischen Stoffe sind allgegenwärtig, in der freien Natur verwehen sie, in geschlossenen Räumen sammeln sie sich an. Mit Dreck oder Schmutz hat das nichts zu tun. Von Dreck spricht man erst, wenn sich die Teilchen mit öligen Substanzen mischen. Im Prinzip kann sich alles in dieser pulverisierten Form auflösen. Damit sind die Krümel ebenso Urbestandteil von Kulturgeschichte wie das Sammeln und der Forschungsdrang des Menschen.

Eine staubige Sammlung

Seine erste Fluse sammelte Wolfgang Stöcker 2004 im Kölner Dom ein. "Ich habe nach einem Medium gesucht, das jenseits von allen hohen Bedeutungen angesiedelt ist", so der Rheinländer, "Dann wollte ich sie mit Orten der Inszenierung, der großen Geschichte und Kunst in Verbindung setzen." Das Gegenteilige sei also der Spannungspunkt, der Kontrast zwischen Vergänglichem und Erhabenem. Der Sammler hat über Friedhofs- und Bestattungskultur promoviert, sein Interesse an Kultur und Geschichte besteht also schon länger. "Aber am Anfang stand auch der Witz: Was passiert, wenn ich ein großes Haus anschreibe und sage, 'Schickt mir mal ne Fluse!‘"

Die Sammlung ist auf keinen Fall staubtrocken (so viel Wortwitz sei nochmal erlaubt). Die Partikel erzählen Geschichten: Wolfgang Stöckers größter Schatz ist eine Fluse aus dem Petersdom in Rom, die aus der letzten Weihnachtsmesse von Papst Benedikt XVI. stammt. Auch im Bücherregal von Rudyard Kipling, Autor des Klassikers "Das Dschungelbuch", und auf der Rückseite eines Werks von Gerhard Richter hat der Rheinländer Staub gewischt. In der Sammlung befindet sich sogar ein Fussel vom Klavier der Schwester Edgar Ellen Poes, Rosalie Mackenzie Poe. So ergibt sich die neue Rubrik "musikalischer Staub". Die Proben aus Opernhäusern aber bleiben in der Kategorie 'Kulturstaub": "Das hat alles seine strenge Ordnung. Ich bin auch Gefangener meines eigenen Systems und komme da nicht mehr raus."

Die Analyse übernimmt der Hobby-Archivar selbst, zum Beispiel anhand des Geruchs, der Haarreste oder Insekten. Besondere Funde lässt Wolfgang Stöcker von einem Labor untersuchen. Doch das ist aufwendig und teuer, oft nur möglich durch die Unterstützung von Museen, Universitäten oder Pathologen. Der große Sponsor ist bis jetzt ausgeblieben, die Bedeutung der Arbeit wird oft nicht verstanden. Die Erkenntnisse könnten vor allem die Nachwelt interessieren: "Es gibt Staubsammlungen in naturkundlichen Sammlungen. Aber ich betreibe das an einer Grenze zwischen Kunst- und Geschichtswissenschaft. Irgendwann ist das sicher Mal für jemanden interessant, vor allem, da es von weltweit kommt und man allerhand in Staub ablesen kann."

Aus einer Staubsammlung wird Kunst

Der Kölner schreibt die Orte an, entnimmt selbst Proben oder bekommt Einsendungen von den sogenannten "Staubscouts". Der partizipative Charakter macht das Ganze zu einer Aktion, zusätzliche Vorträge und Führungen versteht der Künstler als Performance. "Wie ein kleines Theater, das stellenweise auch ins Kabarettistische geht." Bei Staubvermessungen in Museen, wie zum Beispiel mit dem Museum Ludwig in Köln 2017, entstehen zudem kartenähnliche Schaubilder – Artefakte solcher Aktionen, wie der Künstler meint.

Mit den gesammelten Partikeln fertigt Wolfgang Stöcker zudem Skulpturen und Installationen aus Wachs an. Es sind Mikroarchitekturen, in denen Flusen verschlossen sind. "Wenn man sie zerstört, dann auch die Kulturzeugnisse. Ein Moment der Vergänglichkeit." Für seine aktuelle Ausstellung auf und über Burg Posterstein in Thüringen hat Stöcker auch das ersten Mal mit den organischen und anorganischen Stoffen gemalt. In Verbindung mit Leim sind Bilder von fleckigen Kreisen entstanden – sogenannte "Staubporträts". Stöckers prozesshafte Kunst entsteht bei der Auseinandersetzung mit den Ursprungsorten. Aber er nennt auch den Einfluss anderer Künstler, wie Dieter Roth, Joseph Beuys und die Fluxus-Bewegung. Tatsächlich ist das pulvrige, organische Material in der Kunstgeschichte nichts Neues, von Marcel Duchamp bis zu Zeitgenossen wie Paul Hazelton, es ist – Verzeihung! – etwas angestaubt. Aber Stöcker betreibt die Auseinandersetzung damit exzessiv.

Unsinn kann man nicht herstellen

So wurde aus einer einzigen Fluse ein Archiv und ein Kunstprojekt, das gleich mehrere Kunstgattungen einschließt. Die Werke Stöckers werden wiederum von Kunstsammlern angekauft und so in neue Sammlungen integriert. Aber den Grundstock der Staubsammlung gibt Stöcker nicht her. Er ist seine Energiequelle. Der Künstler ist neugierig, sieht in allem einen Sinn: "Auf manchmal witzige Fragen wende ich das Instrumentarium der strengen Geschichtsschreibung an. Dann kommt eigentlich immer Sinn zu Tage, Unsinn kann man gar nicht herstellen. Unsinn ist ja auch Sinn." Zukünftig will sich der Kölner Künstler nicht nur mit dem Kehren und der Besenkammer als soziales Phänomen und kultureller Ort auseinandersetzen. Auch für die Staubsaugerbeutel in verschiedenen Haushalten interessiert er sich. Die eingetüteten Wollmäuse also besser nicht wegwerfen, sie haben nicht nur für den Sammler einen Wert!