Street-View-Fotografie

Straßenansichten

Auf Google Street View sind die Straßen noch voller Menschen. Jon Rafmans "Nine Eyes" zeigt sie in melancholischen Screenshot-Fotografien

In seiner Kurzgeschichte "Von der Strenge der Wissenschaft" beschreibt der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges 1960 eine Landkarte, die von ihren Kartografen so detailliert angefertigt wird, dass sie die gleiche Größe wie das von ihr beschriebene Gebiet annimmt und dieses vollständig bedeckt. 47 Jahre später zog Google aus, um Borges Fabel Realität werden zu lassen und jeden befahrbaren Winkel der Erde Pixel für Pixel abzubilden.

Doch Google Street View ist nicht nur der Versuch einer radikalen Gleichsetzung von Karte und Gebiet, es ist auch die objektivste Form der Fotografie. Stoisch fahren die mit einem Globus aus neun Kameraaugen bestückten Fahrzeuge des Internetriesen um die Welt, nehmen wertbefreit alles um sich herum auf und geben es unverändert wieder.

Ein Jahr, nachdem das erste Street-View-Auto in die Welt aufbrach, startete Jon Rafman sein Projekt "9 Eyes". Seit 2008 sammelt der kanadische Künstler nach Emotionen, Ästhetik und Bedeutung in den Bildern, die die allsehende Gottesaugen-Perspektive Googles hervorbringt.

In den tausenden Screenshots, die Rafman mittlerweile auf dem Tumblr-Blog des Projekts angesammelt hat, werden sein geschultes fotografisches Auge und seine kompositorische Sensibilität ersichtlich. Wie der Künstler in einem Essay über das Projekt beschreibt, findet er seine Inspiration mal in Jeff Walls minutiös inszenierten Tableaus, mal in Walker Evans betrübenden Aufnahmen für die Farm Securities Administration und immer wieder auch in den ungeschönten und gnadenlosen Frühwerken der Street-Fotografie.  

Maschinelle Außenperspektive

Oft sind es exponierte Personen am Rande der Gesellschaft, die von den neun Kameras erfasst werden: Prostituierte, Gang-Mitglieder, Obdachlose. Im Vorbeifahren fängt Street View menschliche Tragödien ebenso ein wie Akte der Vertrautheit und alltägliche Momente, die im nächsten Moment wieder vergessen sind. Sie alle werden gleichsam übersetzt in verschwommene Aufnahmen, bevölkert von verpixelten Gesichtern und überlagert von dem immer gleichen Navigations-Interface. Vielleicht ist es jene seltsame maschinelle Außenperspektive auf die Menschheit, die Rafmans Aufnahmen ihre Melancholie verleiht.

Die Street-View-Bilder suggerieren eine trügerische Synchronität und Aktualität, obwohl die Aufnahmen zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufgenommen und häufig stark veraltet sind. Berlin beispielsweise ist eingefroren an einem sonnigen Spätsommertag im Jahr 2008, an dem das stromlinienförmige Primark-Gebäude am Zoologischen Garten noch ein klappriger Hostel-Plattenbau war.

Nach mehreren Monaten der Stille hat Rafman "9 Eyes" nun inmitten der Coronakrise wieder aufleben lassen. In einem Zustand, in dem der virtuelle Raum permeabler wirkt als der reale, gewinnt das Werk eine neue Bedeutungsebene. Neben einzelnen Aufnahmen von Personen in medizinischen Schutzanzügen zeigen Rafmans Bilder eine gespenstische Normalität. Auf Street View sind die Straßen noch voll mit Menschen.