Relaunch von JW Anderson

Jonathan, hilf!

In einer Fashion-Welt, die ihre Seele zu verlieren scheint, ist das Label von Jonathan Anderson ein seltener Lichtblick. Der neue Dior-Designer versteht Mode bei seiner eigenen Marke als Spielplatz und Wunderkammer

Im Jahr 2025, wenn alles online verfügbar ist, im Minutentakt neue Instagram-Brands entstehen und jeder plötzlich als Kreativdirektor gelten kann, wenn er nur genügend Follower hat: Welche Art von Marke fehlt uns? Wo ist Bedarf? Spricht man mit Insidern der Modewelt, ist die Branche verdammt, weil destruktiv gewinnorientiert. Sie habe ihre Seele verloren. Profit vor Talent, Influencer vor Presse. Alles sei gekauft und gesponsert. 

Die Londoner Modewoche wurde gerade fast folgerichtig von H&M eröffnet, dem "Fast-Fashion-Original", könnte man sagen. Nicht nur mit einer Show, denn das reicht nicht mehr, sondern mit einem zusätzlichen Event. Cos, ebenfalls Teil der H&M-Gruppe, zeigte in New York. Während kleine, junge Labels niemals schwarze Zahlen schreiben und von einem Termin im Schauen-Kalender nur träumen können, bekommen die unnachhaltigen Mega-Marken die beste Bühne. Was oder wer also kann in diesem Konsumklima helfen?

Vielleicht jemand, der sich in einer Rolle des Außenseiters wohlfühlt. Der sich von den breiten Massen abzugrenzen weiß und trotzdem, oder gerade deshalb, erfolgreich ist. Der eine zusätzliche Perspektive anbietet, eine Philosophie und Identität. Jemand wie Jonathan Anderson

Ein Spielplatz abseits des Marktes

Im Sommer zeigte der Nordire bei den Männerschauen in Paris seine erste Kollektion für Dior Homme. Seit seiner Ernennung als Kreativchef im April übernimmt Anderson bei dem französischen Modehaus die künstlerische Leitung für sämtliche Abteilungen. Vorher hatte er das spanische Haus Loewe zu einem international beachteten Kultur- und Luxuslabel transformiert. Der Umsatz verzehnfachte sich in seiner Amtszeit von geschätzt unter 200 Millionen Euro im Jahr 2013 auf über 2 Milliarden Euro 2024. Und jetzt, während er Dior neues Leben einhauchen soll, ist auch sein eigenes Label dran. 

JW Anderson, 2008 in London gegründet, entwickelte sich rasch zu einem der spannendsten, aber auch eigenwilligsten Namen der britischen Modeszene. Anderson experimentierte früh mit Gender-Fluidität, unkonventionellen Silhouetten und einer intellektuellen Herangehensweise an Kleidung. Dies brachte ihm Anerkennung von Kritikern und zahlreiche Auszeichnungen ein und ließ die Marke global sichtbar werden. Kommerziell blieb sie jedoch vergleichsweise nischenhaft, ohne die Präsenz eines großen Konzerns. 

In gewisser Weise diente JW Anderson dem Namensgeber vor allem als kreativer Spielplatz, auf dem er seine Ideen frei austesten konnte, ohne ein Erbe weiterzuführen oder Regeln beachten zu müssen. Jetzt hat er es neu aufgestellt und umgedacht. Statt klassischer Modekollektionen präsentiert Anderson nun eine Art "Wunderkammer", in der Kleidung gleichberechtigt neben Möbeln, Kunstobjekten, Schmuck, Glasarbeiten, Werkzeugen und sogar Lebensmitteln angeboten wird. Im Mittelpunkt steht die Idee handwerklich herausragender Objekte, die durch ihre Geschichten wertvoll werden – und nicht nur durch ihren Preis.

Ein Blick in Andersons Gehirn

Die erste Edition von JW Anderson 2.0 ist jetzt online zu erwerben und umfasst rund 560 Produkte. Zu den Highlights zählen streng limitierte Lucie-Rie-Tassen und Murano-Glas von Laguna-B, der Firma des venezianischen Designers Marcantonio Brandolini dAdda. Daneben nachgebaute Mackintosh-Stühle, antike Gartengeräte, britischer Honig in Gläsern, gravierte Schreibutensilien sowie echter Diamantschmuck. 

Und natürlich JW Andersons Mode – Rugby-Hemden neben bestickten Abendroben. Viele dieser Entwürfe tragen eine persönliche Handschrift, sind etwa Erinnerungen an die Kindheit des Schöpfers, an ehemalige Jobs, stehen für seine Sammelleidenschaft und verschiedene Obsessionen, zeigen Fragmente aus den Anfangsjahren der Marke. 

Was Anderson sucht, und in dieser fein überlegten Auswahl findet und zeigt, ist Authentizität und Persönlichkeit. Ein Blick in das Gehirn und den Kosmos eines der gefragtesten Talente der Branche.

Bedürfnisse wecken, von denen man nicht wusste, dass man sie hat

Exklusive Mode neu zu erfinden und zu verkaufen, ist ein immer schwierigeres Unterfangen. Ein Kategorien übergreifendes Luxushaus, in dem Jung und Alt, modisch und kulturell Interessierte, Feinschmecker und Kleingärtner ihre Luxuslust stillen können, gleicht dagegen einem Lifestyle-Konzept, das funktionieren könnte. Denn kuratiert von Jonathan Anderson, wird jedes einzelne Objekt begehrenswert. 

So wird Konsum in eine Erzählung verwandelt, die schon vor dem Kauf und dem späteren Besitz zu einer Art intellektuellem Erlebnis wird. Nach dem Motto: Ich habe nicht nur eine JW-Anderson-Handtasche bestellt, nein, sie stammt aus einem kulturellen Universum, stand neben einem Maureen-Gallace-Katalog und einer französischen Kupfergießkanne aus dem 19. Jahrhundert. Anderson weckt Bedürfnisse, von denen man gar nicht wusste, dass man sie hat – und das online und offline gleichermaßen. 

Die physisch betretbaren Geschäfte der Brand gleichen keinen klassischen Modeboutiquen mehr, sondern tragen das neue Archiv-Prinzip weiter. Der Designer selbst vergleicht das Konzept mit der Radikalität des "Conran Shop": einem Raum, der über Mode hinausgeht und Alltagskultur aufwertet. 

Fundus, Einkaufsmöglichkeit und Museum in einem

Seine Läden werden komplett neu gestaltet, jede Filiale soll Arbeiten lokaler Handwerkskünstler enthalten, die Waren auf schlichten Holzleisten hängen. Fundus, Einkaufsmöglichkeit und Museum in einem. Für das Kunstprogramm hat Anderson den Kurator Andrew Bonacina ausgewählt, ehemals Direktor des Hepworth Wakefield Museums. In den Stores sollen wechselnde Formate umgesetzt werden: mal eine einzelne hochpreisige Arbeit, mal Mini-Ausstellungen junger Künstler. Damit knüpft Anderson an seine Praxis bei Loewe an, wo er Werke von Künstlern wie Matthew Ronay oder Howard Hodgkin in den Boutiquen präsentierte. Ziel ist es, die Verkaufsräume in hybride Kulturorte zu verwandeln. So werden Modenschauen zweitrangig. 

Jonathan Anderson gilt als Vorreiter. Er hinterfragt, setzt neue Maßstäbe, liebt seine Arbeit so sehr, dass acht Kollektionen im Jahr nicht reichen, sondern ein zweites Ventil hermuss. Wird sein Konzept das Mode-Erleben neu definieren? Vielleicht, denn es ist Zeit für etwas Neues. 

Seinem Ansatz getreu hat JW Anderson in dieser Saison keine traditionelle Laufsteg-Schau bei der London Fashion Week gezeigt. Präsentationen werde es nur noch dann geben, wenn er das Gefühl habe, dass sie wirklich einen Zweck erfüllen. Stattdessen eröffnete er in Soho seinen vollständig umgestalteten JW-Anderson-Store, der eine Vorschau auf die Transformation des Labels bietet. Zudem lud er gemeinsam mit dem British Fashion Council zu einem Dinner im Ritz. Diese Strategie folgt einem generellen, immer stärker spürbaren Verlangen nach realen Erlebnissen und Verbindungen; Austausch mit Menschen, nicht Chatbots. JW Anderson ist der Lauftreff, der Lesezirkel, der Kleidertausch-Markt der Modebranche. Willkommen auf seiner Spielwiese.