Im Verhältnis zu seiner überschaubaren Einwohnerzahl steuert Island einen bemerkenswerten Anteil zur Gegenwartskunst bei. Das heißt, zu allen Künsten. Denn isländische Kreative sind – fast möchte man sagen, in der Regel – Mehrfachbegabungen. Man muss nur an Björk denken oder an Ragnar Kjartansson mit seinen wunderbaren, spielfilmartigen Videoarbeiten.
Ganz so berühmt ist Jón Þór Birgisson noch nicht, viele Musikfans kennen ihn aber unter seinem Künstlernamen Jónsi und als Bandleader der Postrock-Band Sigur Rós, die nach seiner kleinen Schwester benannt ist. Im norwegischen Kristiansand, wo seit einigen Monaten das ambitionierte Museum Kunstsilo zu besichtigen ist, wird ihm nun als Künstler eine große, auch technisch adäquate Bühne bereitet.
Seine ausdrucksstarke, in höchste Höhen vordringende Stimme hat Jónsi zum Ausgangsmaterial der Installation genommen, die mit dem Titel "Vox" ein wenig zu naheliegend betitelt ist. Aber sei's drum. Es handelt sich um eine Videoarbeit, bei der der Klang der Stimme auf vier schmalen Screens in Lichtreflexe übersetzt wird, in flackernde, zuckende und wieder verlöschende, aber durchweg neblig verwaschene LED-Signale.
Kunst, die in die Knochen fährt
Jónsi selbst ist selbst für Fans nicht zu erkennen, denn seinen charakteristischen Fallset-Sound hat der Künstler vielfach verfremdet, überlagert, verzerrt und bisweilen über monotone Rhythmen oder auch Basslinien wohl elektronischer Herkunft gelegt. Wie denn auch in der Modulation der Stimme viel KI steckt. Das Ganze ist dank 52 im Raum verteilter Lautsprecher äußerst imposant und dringt wahrlich in alle Knochen; aber merkwürdigerweise ist man schon nach wenigen Minuten so gewöhnt daran, ja einverstanden, dass man sich meditativ fortgetragen wähnt.
Vielleicht liegt es auch an dem sanften, kaum vernehmlichen Duft nach Heu, Erde, Natur, den Jónsi seiner Installation beigegeben hat. Er liebe es, sagt er im Gespräch, alle Sinne anzusprechen und "zu triggern". Seine Erwartung, "dass die Besucher ein wenig länger verweilen", dürfte nicht trügen. Denn die 25 Minuten, die die Vorführung – ohne Anfang und Ende, eher als Endlosschleife – dauert, sind überraschend abwechslungsreich, man meint Chöre zu hören und gregorianische Gesänge.
Jónsi, der dieser Tage seinen 50. Geburtstag feierte, lebt nicht im heimatlichen Reykjavik, sondern seit acht Jahren in Los Angeles. Dort auch war "Vox" erstmals vor Publikum zu sehen und zu hören. Die Installation in einem geräuschisolierten Raum des Kunstsilos ist die erste Museumsausstellung in Europa, abgesehen von Island.
Nordische Identität zwischen Tradition und Vision
"Dies ist nicht nur eine Ausstellung – es ist eine komplette Erweiterung der Sinne", begeistert sich denn auch Kurator Karl Olav Segrov Mortensen: "Jónsi lädt uns in ein grenzüberschreitendes Universum ein, in dem wir von Vibrationen und einem erdigen Duft von Wurzeln und botanischen Essenzen in einer auditiven Erfahrung umhüllt werden. Er eröffnet einen Raum, in dem Technologie, Intuition und Natur auf eine Weise miteinander verwoben sind, die sich sowohl alt als auch futuristisch anfühlt." Sowohl "alt" als auch "futuristisch", das ist eine diffuse Mischung, wie sie in Zeiten der Verunsicherung gut ankommt, weil sie einen Halt zu geben scheint und zugleich Raum für Künftiges lässt.
Unverblümt formuliert es Maria Mediaas Jørstad, die Direktorin des Kunstsilos: "Die Arbeiten spiegeln die nordischen Traditionen der Erforschung von Natur, Mythologie und existenziellen Themen wider und stellen uns gleichzeitig in einen globalen Kontext. Unser Engagement für immersive, sinnliche Kunsterlebnisse, sowohl durch die Werke selbst als auch durch unsere Vermittlung, hat sich als äußerst populär beim Publikum erwiesen."
Zwischen den Zeilen schimmert durch, wo das Problem des Museums liegt. Das Haus ist durch die Sammlung seines Stifters, des Sammlers und Finanzmanagers Nicolai Tangen, ganz der nordeuropäischen Kunst gewidmet – ohne jedoch sagen zu können, worin das spezifisch Nordische eigentlich besteht.
Die Farben der Nachkriegszeit
Wie zum Ausgleich ist in einem weiteren Stockwerk des in die Röhren eines Getreidesilos hineingeschnittenen Museumsgebäudes eine Ausstellung des Künstlerpaares Else Alfelt und Carl-Henning Pedersen zu sehen. Beide waren nach dem Zweiten Weltkrieg, den sie in Dänemark verbracht hatten, Gründungsmitglieder der Künstlergruppe CoBrA. Deren Name verweist auf die drei Städte Kopenhagen, Brüssel und Amsterdam, in denen die Mitglieder dieser dezidiert transnationalen Vereinigung lebten.
Das überaus farbkräftige Werk beider Künstler, so verschieden sie auch stilistisch waren, springt den Betrachter im Kunstsilo regelrecht an. Es ist im Visuellen so "immersiv" wie die Installation Jónsis im Akustischen. Während Pedersen der Art brut der Nachkriegsjahre nahestand, mit seinen immer wieder dargestellten Masken und Fratzen, blieb Else Alfelt einer abstrakt-kosmischen Bildsprache treu. Bis zu ihrem frühen Tod 1974 entstand dennoch in enger Lebenspartnerschaft ein Werk, das den entscheidenden Impuls der Zeit nach dem großen Krieg verkörpert: das Streben nach vollständiger Freiheit in der Entfaltung des Individuums.
Das jedenfalls ist etwas, das der Kunst des Nordens als Grundmotiv und Antrieb zugerechnet werden kann. Das Kunstsilo liegt am Meer, diesem Inbegriff von Weite und Ungebundenheit. Vielleicht kommen Jónsis schwebende, lockende, bisweilen auch klagende Töne genau daher.