Jordan Wolfsons neue VR-Installation "Little Room" versprüht die klinisch-kühle Atmosphäre eines Labors – oder vielleicht auch eines Leichenschauhauses. Und wenn man den kleinen Raum nach einer Stunde wieder verlässt, fühlt es sich an, als sei man seines Körpers beraubt und als seien dem eigenen Geist gründlich die Leviten gelesen worden. Ist man Gott begegnet, ein wenig gestorben und wieder geboren worden? Aber beginnen wir vorn.
Mit seinen unheimlichen Robotern und animierten Puppen lehrt der 1980 geborene Wolfson die Kunstwelt schon seit einigen Jahren das Fürchten. Zu seinem Gruselkabinett zählt eine zwei Meter große Marionette, die wie in einem Foltergefängnis in Ketten gelegt und über den Boden geschleift wurde; außerdem ein animiertes Kondom und ein AIDS-Virus, die durch den Ausstellungsraum wirbeln. Und eine an einer Spiegelwand befestigte Maschinentänzerin, die das Publikum durch eine schwarze Hexenmaske mit ihrem bösen Blick fixiert. Wolfsons Skulpturen zielen auf den physischen, den direkten Kontakt mit dem Publikum.
Entsprechend groß war die Spannung auf das neue Werk "Little Room". Dieses feierte Ende Mai bei der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel Weltpremiere – und wurde während der Art Basel-Woche dann zum meistdiskutierten Werk. Museumsdirektoren, Kuratorinnen, Sammlerinnen, Künstlerkollegen – alle quetschen den Ausflug zur Fondation in ihre engen Messe-Zeitpläne. Wobei dann wohl nicht jeder, der eine Meinung zu dem Werk äußerte, es auch wirklich gesehen hatte. Das Prozedere ist einigermaßen zeitaufwendig, die Warteschlange lang.
Meine Partnerin und ich haben unsere Körper getauscht
Zunächst einmal muss man, sofern man allein gekommen ist, einen Partner oder eine Partnerin auswählen, Mitwartende gibt es ja genug. In meinem Fall ist das Marie, eine Künstlerin aus Paris, Mitte 50, zwei Köpfe kleiner als ich, schwarze Haare, braune Augen. Nacheinander betreten wir eine Scanner-Kabine wie bei der Sicherheitskontrolle eines Flughafens, wo ganze 96 Kameras aus allen Winkeln auf einen gerichtet sind und ein Foto machen, Scan der Augennetzhaut inklusive. Während das Abbild erstellt und anschließend in einen Avatar umgerechnet wird, nehmen Marie und ich an einem Tisch Platz.
Anschließend führt uns eine Mitarbeiterin auf eine Art Spielfeld, wir setzen Kopfhörer und eine Datenbrille auf. Vor den Augen erstreckt sich jetzt ein zunächst leerer, heller, virtueller Raum. Aus den Kopfhörern kommt Jordan Wolfsons tiefe Stimme: "I am God. I killed you".
Dann sehe ich meinen Avatar am anderen Ende des Raums auftauchen, doch die Bewegungen sind nicht meine, sondern Maries. Meine Partnerin und ich haben unsere Körper getauscht. Schaue ich sie an, sehe ich meine Augen, dreht sie sich um, sehe ich meinen Hinterkopf und Rücken, blicke ich an mir hinab, sehe ich Maries Schuhe, Hose, Bluse. Wobei besonders irritierend die Ansicht meiner neuen Hand und der nackten Haut des Unterarmes sind: Finger, die deutlich schmaler sind als sonst, die ungewöhnlich gebräunte Haut.
"Schaut euch selbst an!"
Jetzt öffnet sich Maries (also mein) Mund, aus dem eine tiefe Stimme (es ist jene des Künstlers) Satzfragmente spricht wie aus einer Familienaufstellung, einem bösen Theaterstück: "I am your father. I hate you. I am your mother. I love you. I am your father. I love you. I am your mother. I hate you."
Dann fliegt von einer Seite des Raumes ein Spiegel auf uns zu, und wir sehen unsere neuen Ichs, diesmal mit veränderten Proportionen: Marie ist jetzt so groß wie ich. Ihr Körper und Kopf haben meine Formen; während mein Abbild auf Maries Körper geschrumpft ist. Und schließlich folgt ein schwebender schwarzer Balken, der unsere Avatare schluckt und am anderen Ende wieder ausspuckt. "Look at yourself", schaut euch selbst an, sagt die Stimme aus meinem Mund dazu.
Nach etwa 15 Minuten ist alles vorbei und wir nehmen die Headsets ab. Leichter Schwindel, man traut dem Boden unter den Füßen nicht recht, freut sich, seine Gliedmaßen wiederzuhaben. Das Timing der Installation scheint gerade richtig: lang genug für einen eindrücklichen Realitätsverlust, kurz genug, um nicht psychotisch zu werden. Aber ist das schon alles?
Steht der Aufwand im Verhältnis zum Ertrag?
Zweifellos ist "Little Room" ein technisches Meisterwerk - und sicherlich so kostspielig, dass es sich derzeit nur gut bestückte Institutionen oder Privatmuseen leisten können. Aber wie bei vielen derzeitigen VR-Kunstwerken steht die Frage im Raum, ob der Aufwand im Verhältnis zum Ertrag steht, ob das alles mehr ist als cutting edge Hightech. Was viele, die vom "Little Room" nur gehört hatten, auch wissen wollten: Ob es darin denn gar kein Narrativ, keine Story, gäbe?
Genau der Minimalismus der Arbeit aber ist es, was mich am "Little Room" begeistert hat. Anders als bei vielen, sich zum hundertsten Mal irgendwie auf die US-Philosophin Donna Haraway berufenden VR-Künstlern, taucht man bei Wolfson nicht in eine bunt schillernde Science-Fiction-Welt ab, schwebt man nicht durch organisch-technische Hybride, die die schöne Welt von morgen zeigen.
Sein "Little Room" entfaltet blanken Horror: ein klinisch-weißer Raum, in dessen Linien man wie in einem Koordinatensystem gefangen ist. Das Gefühl, des eigenen Körpers beraubt, missbraucht worden zu sein. Eine illegitime Verletzung der leiblichen Grenze, über die einen kein Erzählstrang, keine Erklärung hinwegtäuscht. Jemand hat sich deiner bemächtigt, einfach weil er es kann. Weil er Gott spielt. Funny Games.
Marie ist in meinen Körper eingebrochen
Vielleicht spiegelt Wolfson damit die Allmachtsphantasien der Tech-Bros, vielleicht spricht daraus aber auch die vom aktuellen Weltgeschehen ja durchaus gestützte Überzeugung, dass der technologische Fortschritt kaum dazu angetan ist, die menschlichen Abgründe einzuebnen, im Gegenteil.
Im minimalistischen Setting des "Little Room" ist man auf sich selbst zurückgeworfen; auf den Narzissmus, der die Weltpolitik genauso prägt wie Social Media, auf das ödipale Dramadreieck Vater-Mutter-Kind, mit wechselnden Opfer- und Täterrollen. Marie ist in meinen Körper eingebrochen, aber ich auch in ihren.
Als wir uns voneinander verabschieden, ist da ein komischer Mix aus Verbundenheit und Scham, Nähe und dem Gefühl, dass man eine Grenze der Intimität überschritten hat. Diese Ambivalenz ist es, was "Little Room" zu einem sehr zeitgenössischen Werk macht.