Josep Bohigas, seit Herbst letzten Jahres sind Sie als Creative Mediator im Ruhrgebiet, um an den Recherchen für die Manifesta 16 mitzuarbeiten. Welche Geschichten kannten Sie, und was haben Sie vorgefunden?
Bereits vor zehn Jahren habe ich zum Ruhrgebiet eine Ausstellung in Barcelona gesehen und fand es sehr spannend. Jetzt, vor Ort, sind die Eindrücke überwältigend. Als Stadtentwickler bin ich fast ein wenig eifersüchtig. Als wir für Barcelona das "Superblock"-Konzept entwickelt haben, mussten wir ein Raster entwickeln, um Quartiere und Nachbarschaften herzustellen. Das Ruhrgebiet ist bereits eine Welt aus Stadtvierteln. Man kann die einzelnen Städte gar nicht erkennen. Es ist eine Welt aus Nachbarschaften, und man kann aus der Vielzahl schöpfen. Damit kann man großartig arbeiten. Es gilt nun, die Anbindung und die Schwachstellen zu finden, zu identifizieren, wo wir ansetzen können und mit welchen Orten wir weiterkommen. Aber ich habe bereits so viel Engagement und kleinere Vereine gefunden - ich bin begeistert.
Ihr Konzept für die Manifesta 16 stellt die Kirchen in den Mittelpunkt – warum?
Es geht um die Stärkung von Gemeinschaften. Und schaut man sich die Strukturen genauer an, erkennt man: Die Gemeinschaften entstanden um die Fabriken und um die Zechen herum. Und all diese kleinen Viertel hatten auch eine Kirche. Viele der Kirchen entstanden mit den Zechen. Für mich sind Untergrund und Himmel hier in einer Bewegung verbunden.
Und wie wollen Sie das nutzen?
Rund 100 Kirchen haben wir im Ruhrgebiet identifiziert, etwa 50 erschienen uns interessant für unsere Zwecke, darunter erstaunliche Gebäude moderner und innovativer Nachkriegsarchitektur. Viele davon stehen aber leer, und es drohen Verkauf oder Abriss. Das darf nicht passieren. Und das darf vor allem nicht heimlich geschehen. Die ganze Infrastruktur der Quartiere wird durch die Kirchen gehalten, und wir müssen aufpassen, was passiert, wenn sie sich wandeln. Ein Phänomen, das übrigens nicht nur im Ruhrgebiet zu beobachten ist, sondern an vielen Orten der Welt. Es gibt Kirchen in London, in denen sind Luxuswohnungen entstanden, und in Spanien gibt es zum Beispiel in einer Kirche einen Skatepark.
Es soll um Zusammenhalt gehen - aber es gibt sicher wenig, das so polarisiert wie die Kirche …
Ich bin nicht an Religion interessiert - mich interessiert die Infrastruktur. Die Kirche ist für mich ein Ausdruck der Nachbarschaft und der Nähe. Sie ist nicht als Ort der Religion anzuschauen.
Und kann Kunst das erreichen?
Die Idee ist jetzt, die Türen zu öffnen. Die Kirchen müssen die Türen öffnen, und sie wissen nicht, wie das geht, man muss es ihnen zeigen - auch mithilfe der Kunst. Darum wird es jetzt gehen. Zu viele Kirchen sind geschlossen, das macht keinen Sinn - da gehören ja auch Plätze und Gärten dazu. Es ist eine fantastische Infrastruktur. Und: Jedes Viertel, jede Kirche ist anders. Wir müssen individuelle Lösungen schaffen. Die Themen der Nachbarschaft müssen in der Kirche reflektiert werden. Und wenn man sich einen Skatepark wünscht, dann wird es eben ein Skatepark.
Viele der Nachbarschaften im Ruhrgebiet sind migrantisch geprägt, viele Bewohnerinnen und Bewohner sind muslimischen Glaubens. Wie sollen sie Teil des Prozesses werden?
Mir ist das Problem bewusst. Aber genau darum wird es gehen, das wird der Prozess zeigen. Die Fragen sind: Welche Rolle spielen diese Nachbarschaften für die Identität des Ruhrgebiets? Welche kulturellen Räume gewähren Zusammenhalt, und was können die Kirchen beitragen? Und glauben Sie mir, in Spanien ist es noch schwieriger, da sind die Kirchen noch heiliger. Was entfernt man? Was passiert mit den ehemaligen Kultgegenständen? Aber in die Zukunft geschaut müssen sich doch auch die Kirchen fragen: Die Plätze, die heiligen Orte – wie bekomme ich sie wieder gefüllt?
Ja, wie?
Ich will ja nichts zerstören - das ist mir sehr wichtig, das wäre auch nicht nachhaltig. Aber fast die Hälfte der 40.000 Kirchen in Deutschland könnte innerhalb der nächsten zehn Jahre geschlossen, abgerissen oder verkauft werden – das ist so ein großes Potenzial. Wir starten jetzt die Befragungen der Bürgerinnen und Bürger. Im Mai finden zudem erste Workshops in Kirchen in Essen, Duisburg, Gelsenkirchen und Bochum statt. Die ersten Ergebnisse in unserem weiteren Umsetzungsprozess werden wir dann wohl im Laufe des Sommers haben. Dann erfolgt auch die Auswahl der Kirchen. Ich bin zuversichtlich.