Julian Charrière ist ein Abenteurer. In seinem Berliner Studio erzählen Koffer und Reisetaschen, Alukisten und wasserdichte Peli-Cases von einem, der bald wieder aufbrechen wird. In Basel lädt er in diesem Sommer ein internationales Publikum dazu ein, ihm auf einige seiner Reisen zu folgen: Im Museum Tinguely, das historisch in Anbetracht des Schweizer Pioniers kinetischer Kunst Jean Tinguely (1925–1991) als "Haus der Bewegung" bezeichnet werden kann, hat er verschiedene maritime und submarine Projekte zu einer Reise ins Meer zusammengewoben. Ein immersiver Tauchgang mit psychoanalytischer Dimension.
Schon als Kind hat den in den Schweizer Bergen aufgewachsenen Charrière das Meer fasziniert, begonnen mit den Filmen des französischen Meeresforschers Jacques-Yves Cousteau (1910–1997) und kleinen Schnorchelgängen; seit 2012 taucht er tiefer hinab – und ist dabei nun selbst mit einer Unterwasserkamera ausgestattet oder von einem ganzen Kamerateam mit Unterwasserdrohnen begleitet. "Wir kommen sogar gleich zweifach aus dem Meer", sagt Charrière und spielt damit sowohl auf die Evolution der menschlichen Spezies als auch auf das Meer im Mutterleib an. "Wenn wir unser Essen mit Speisesalz versehen, dann tun wir das auch, um diese Verbindung wieder aufzunehmen."
Im ersten Raum der Ausstellung entführt er uns mit "Where Waters Meet" (2019) in die Tiefen mexikanischer Cenoten, in denen er Freitaucher wie Embryonen bei ihren Tauchgängen fotografiert hat. Begleitet von verstärkten Unterwassergeräuschen und in einem stark abgedunkelten Raum scheinen die Fotographien sich fast zu bewegen, und der Boden unter den eigenen Füßen beginnt beim Anblick dieser freischwebenden, nackten Körper zu schwanken. "Ich wollte, dass man in dieser Ausstellung das Meer wirklich spüren kann und sich auch vom eigenen Selbst lösen kann – vielleicht eine Annäherung an das von Freud entwickelte Konzept des 'ozeanischen Gefühls', das ich selbst auch bei meinen ersten Tauchgängen empfunden habe. Ein Gefühl der unmittelbaren Verbundenheit mit deiner Umgebung, die wir oberhalb der Wasseroberfläche durch andere Kommunikationsweisen ersetzt haben."
"Das Meer ist ein Raum der Verdrängung"
Im nächsten Raum erwartet uns mit der Arbeit "Silent World" (2019) ein scheinbar unendlich tiefes Wasserbassin, in das wir zumindest gedanklich hineinspringen und abtauchen können, um im Untergeschoss des Museums tatsächlich noch tiefer abzutauchen. Zunächst im Arktischen Ozean, wo wir in der neuen Videoarbeit "Albedo" (2025) Walgesängen lauschend unseren Blick nach oben auf jenes "Ewige Eis" richten, auf dessen Endlichkeit die Klimaforschung uns seit Jahren unüberhörbar aufmerksam macht. "Das Meer ist ein Raum der Verdrängung – alles, was sich unter seiner Oberfläche ereignet, versuchen wir instinktiv zu verdrängen, als könnten uns seine Wahrheiten zu tief erschüttern, würden wir ihnen ins Auge sehen. Der Mensch will den Blick aufs Meer, aber wehe, er wüsste, was dort alles lebt – oder eben vom Aussterben bedroht ist."
Noch einen Stock tiefer tauchen auch wir hinab – in die titelgebende Videoarbeit "Midnight Zone" (2025), für die sich Charrière erneut auf eine Reise in die Tiefsee begeben hat. Im Fokus steht die Clarion-Clipperton-Zone – ein entlegener Meeresabschnitt im Pazifik, heute zugleich geopolitisches Spannungsfeld und ökologischer Brennpunkt. Wo einst nur kartografische Leerstellen verzeichnet waren, senkt sich nun das Licht eines Leuchtturms – gebündelt durch eine Fresnel-Linse – in die schwarze Tiefe und lässt eine Welt sichtbar werden, die unserem Blick sonst entzogen bleibt: schillernde Fisch- und Krillschwärme, geisterhafte Leuchtwesen, die schwebend und schimmernd über der abgründigen Dunkelheit jener Manganfelder treiben, die als Rohstoffquelle der Zukunft gelten – und schon bald durch weitreichende Tiefseebergbauprojekte ausgebeutet werden könnten.
Die möglichen Konsequenzen solcher submariner Abbauprojekte wären verheerend – für das umliegende Ökosystem ebenso wie für all jene Lebewesen, die in der darüberliegenden Wassersäule existieren. Nicht zuletzt, weil dabei eine Vielzahl toxischer Substanzen freigesetzt würde, die sich unkontrolliert im Ozean verteilen könnten, aber auch, weil der Meeresboden als gigantischer Kohlenstoffspeicher fungiert. Wird diese fragile Sedimentschicht gestört, droht die Freisetzung von Treibhausgasen, die bislang tief unter der Oberfläche gebunden waren, Gase, die uns im Verborgenen vor den schlimmsten Auswirkungen unserer eigenen Emissionen schützen.
Das Meer spricht zu uns
Während zeitglich in dieser Woche Politiker und Wissenschaftlerinnen auf der UN-Ozeankonferenz in Nizza über die Zukunft der Meere diskutieren, zieht uns Julian Charrière mit seinem Tauchgang am Rhein in die Tiefe – und öffnet uns in der dunkelsten Umgebung die Augen für eine Landschaft, die ebenso faszinierend wie bedroht ist. Eine Welt, in deren unmittelbarer Nähe der Mensch sich vom Ufer aus – mit "Meerblick" – vor allem in stiller Verdrängung zu üben scheint.
So überrascht es nicht, dass Charrière im letzten Raum der Ausstellung mit der Soundinstallation "Black Smoker" (2025) an seine bisherigen Arbeiten zu Vulkanlandschaften anknüpft – und diesmal den submarinen Vulkanen das letzte Wort überlässt. Wir werden Zeugen einer klanglichen Konferenz eruptiver Tiefen: Die Tonaufnahmen stammen vom Axial Seamount, einem Tiefseevulkan vor der Küste Oregons, über die Black Smokers des hawaiianischen Meeresbodens bis hin zu den hydrothermalen Quellen der Äolischen Inseln bei Sizilien. Das Meer spricht zu uns – in eruptiven Rhythmen und tektonischem Grollen. Das Meer spricht zu uns. Aber noch bleibt uns seine Sprache verschlossen.