Im Interview: Ulrich Seidl

Ka schöne Leich

Ursprünglich wollte er einen Film über weibliche Sehnsucht drehen. Es wurden drei Filme, und – Festivalrekord! – sie wurden nacheinander zu den Wettbewerben von Cannes, Venedig und Berlin eingeladen. Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl, 60, überschreitet einmal mehr die Grenzen dessen, was wir sehen sollen oder wollen: Eskapaden einer Sextouristin in Kenia („Paradies: Liebe“ lief im Januar an), das Ringen einer strenggläubigen Katholikin mit Jesus („Paradies: Glaube“), die verbotene Liebe einer 13-Jährigen in einem Diätcamp: „Paradies: Hoffnung“ (läuft im Wettbewerb der Berlinale, bis 17. Februar).


Herr Seidl, sind Sie ein Frauenversteher?

Glaube ich schon, sonst hätte ich nicht drei Filme über Frauen gemacht. Wie jeder Mann habe ich weibliche Anteile. So ist es mir gemeinsam mit den Schauspielerinnen gelungen, mich in die Charaktere der „Paradies“-Trilogie hineinzudenken und zu fühlen. Ich kann das für meine ganze Arbeit sagen, aber es betrifft auch das Publikum, das sich als Teil der gezeigten Welt erkennen soll.

Nun unterscheiden sich Männer von Frauen …
Natürlich! Ich bin auch gegen Gleichmacherei. Da sind wir schon bei „Paradies: Liebe“. Weiblicher und männlicher Sextourismus unterscheiden sich durchaus. Wenn Frauen Sex suchen, erwarten sie eine Anbahnung, Verliebtheit, Wertschätzung. Denen geht es nicht um das schnelle Geschäft – und fertig. Das wissen die Kenianer, mit denen wir gedreht haben, und sie können es den Frauen geben.

Aber „Sugar Mama“ Teresa wird zwangsläufig enttäuscht und prügelt auf ihr Liebesobjekt ein. In der Gewaltanwendung unterscheiden sich Frauen und Männer bei Ihnen gar nicht.
Warum sollten Frauen nicht ebenso wie Männer mal Täter, mal Opfer sein?

Wie kommt es, dass das „Paradies“-Projekt sich so ausgeweitet hat?
Weil ich beim Drehen maßlos bin! Ursprünglich war ein Film mit drei parallel erzählten Episoden geplant. Mit 90 Stunden Material und nach vielen Versuchen am Schneidetisch hat sich herausgestellt, dass Einzelfilme die bessere Lösung sind. So ist das Thema noch komplexer.

Was ist denn das Thema?
Die Sehnsucht der Frauen, ihre Suche nach Erfüllung. Darin sind die Geschichten gleich, alle drei Frauen wollen der Einsamkeit entrinnen.

Das sind doch ganz humane Themen in ihren Filmen. Trotzdem gibt es immer so viel Ärger. Während der Filmfestspiele in Venedig hat eine katholische Organisation Anzeige wegen Blasphemie erstattet…
…weil sich Annamaria in „Paradies: Glaube“ mit einem Kruzifix ins Bett legt. Aber das ist keine Blasphemie. Die Szene ergibt sich konsequent aus der Figur. Überrascht hat mich in Venedig, wieviel in den Aufführungen gelacht wurde, und es hat mich auch gefreut. Auf Verstörung und Humor lege ich in meinen Filmen gleichermaßen viel Wert.

Wenn man liest, dass Sie selber streng katholisch erzogen wurden und 1983 wegen der entlarvenden Dokumentation „Der Ball“ über ihre niederösterreichische Heimatstadt von der Wiener Filmakademie flogen – kommen Ihre Filme aus der Wut, dem Wunsch nach Selbstbefreiuung?
Schmarrn. Weder mit „Jesus, du weißt“ noch mit „Paradies: Glaube“ habe ich mich irgendwie persönlich rächen wollen. So ein Selbstzweck interessiert mich nicht, obwohl die Kirche ein weites Feld bietet, an dem ich mich abarbeiten könnte!

Ihnen ist ja die Sensation gelungen, auf den drei A-Festivals Cannes, Venedig und Berlin nacheinander die drei „Paradies“-Filme zu zeigen, und jeweils im Wettbewerb! Ohne den Verstärker Festival hätten es doch gerade Ihre Filme schwer, oder?
Es funktioniert in Europa einfach so, dass Filme über Festivals in die Medien kommen und damit auch zum Publikum, in die Kinos. Wenn wir Filmemacher die PR-Maschine der Festivals nicht hätten, wäre es härter. Aber man hat´s schwer genug. Der Kinobetrieb gönnt uns höchstens Schlupflöcher. Die von den Amerikanern beherrschte Industrie ist ein globaler Supermarkt, und du stehst quasi mit deinem Bauchladen draußen vor der Tür.

Die Hoffnung stirbt zuletzt. „Paradies: Hoffnung“ heißt der finale Teil Ihrer Trilogie. Die 13-jährige Melanie verliebt sich in einem Diätcamp in einen 40 Jahre älteren Betreuer. Nach Kenntnis der Vorgängerfilme schätze ich, das Mädchen landet am schließlich am Ausgangspunkt, wie die anderen Figuren.

Sehe ich vollkommen anders! Auf ihrer Suche sind die Figuren am Ende ein Stück weitergekommen, einfach, weil sie Erfahrungen gemacht haben. So wie ich das Leben sehe, sind auch die Geschichten angelegt. Es gibt nicht die Guten und die Bösen bei mir und Schuldzuweisungen, sondern ich zeige Menschen bei ihrem Versuch, das Leben zu bewältigen.

Wie castet man denn eine 13-Jährige?
Indem man sich sehr viel Zeit lässt, mit vielen Kandidatinnen ins Gespräch kommt und probt. Wenn drei oder vier Mädchen übrig bleiben, hat man schon den halben Weg des Films hinter sich. Nach über 30 Jahren Dokumentar- und Spielfilmen habe ich viel Erfahrung mit Darstellern und Improvisation gesammelt. Und auch bei „Paradies: Hoffnung“ hat das Zusammenspiel von Laien und Schauspielprofis zu überraschenden Ergebnissen geführt. Bei dieser Mischung gibt es kein abgekartetes Spiel.

Mulmig wurde mir, damals in „Import Export“ die teils verwirrten Greise zu sehen. Wenn man Leute filmt, die nicht wissen, was abläuft, werden doch Persönlichkeitsrechte verletzt.

Dann hätte ich es nicht gemacht. Niemand kann sagen, was man filmen darf und was nicht. Wo soll da die Grenze liegen? Einmal davon abgesehen, dass man für solche Dreharbeiten als erstes die rechtliche Seite klärt – entweder die Akteure erklären sich selbst einverstanden oder ein Vormund unterschreibt – haben diejenigen, die sagen, sowas dürfe man nicht zeigen, nur ein schlechtes Gewissen. Man blickt mit derartigen Szenen in von der Gesellschaft abgesperrte Räume. Die Menschen in solchen Kliniken werden rund um die Uhr medizinisch versorgt, gepflegt und ernährt, aber sie vereinsamen seelisch. Davor soll man die Augen verschließen?

Mir ist aufgefallen, dass in Ihren Spielfilmen, „Hundstage“, „Import Export“, der „Paradies“-Trilogie, kaum jemand stirbt.
Die schöne Leich, wie der Österreicher sagt, das wäre ein Schlusspunkt, eine Erlösung auch für den Zuschauer. Ich will aber, dass die Leute den Film mit nach Hause nehmen. Ein Film soll ein Spiegel der Wirklichkeit sein. Der Tod, das ist das Fremde, da kann das Publikum sagen: Hat mit mir nichts zu tun.

Dafür gibt es viel Gewalt in ihren Filmen, Blut, Dreck und Arten von Sex, die für viele Zuschauer, naja, ungewöhnlich sind. Mitunter weckt das Assoziationen an den Wiener Aktionismus.

Kenne ich natürlich, hat mich aber nicht direkt inspiriert. Wahr ist, dass die bildende Kunst und gerade auch die Literatur in Österreich dazu neigt, direkt und schonungslos mit der Gesellschaft umzugehen. Insofern stehe ich schon in einer künstlerischen Tradition, die der Wahrheit ins Gesicht schaut. Darum zeige ich häufig Szenen gegenseitiger Ausbeutung. Aber ehrlich, die Wirklichkeit ist viel schlimmer. Wir wissen, dass Ausbeutung und Machtausübung durch Sexualität in allen Gesellschaftsschichten stattfindet, wir reden nicht über Einzelfälle.

Der deutsche Bundestag hat kürzlich ein Sodomieverbot verabschiedet. 1995 haben Sie zum libidinösen Verhältnis Ihrer Landsleute den Dokumentarfilm „Tierische Liebe“ gedreht. Sollte man so etwas unter Strafe stellen?
Da bin ich ganz dagegen. Dass man seine Mitmenschen und die Tiere achten sollte, lässt sich nicht per Gesetz regeln. Freiräume, Grauzonen einzuschränken löst keine moralischen Probleme. Überhaupt, diese absurden Regeln: es ist doch zum Beispiel eine Zumutung, dass ich im Auto einen Sicherheitsgurt anlegen soll. Das ist doch meine Sache!

Bei C/O Berlin präsentieren Sie zurzeit Fotos der „Paradies“-Filme. Lassen sich die Bilder so einfach aus dem Erzählzusammenhang reißen?
Das ist der Versuch. Ob es funktioniert, wird sich herausstellen. Übrigens sind es keine Standfotos, sondern aus dem Film genommene Bildkader. Dahinter steht die Frage, wieviel so ein Tableau erzählen kann – und das führt mich an meine Ursprünge zurück. Bevor ich zum Film kann, haben mich Malerei und Fotografie interessiert. Gut, das Malen habe ich sehr bald aufgegeben, doch ich habe immer gezeichnet und fotografiert. Ein Foto zeigt ja beides: die Welt und den eigenen Blick darauf. Dieses Prinzip, die Realität zu gestalten, habe ich in meinen Filmen fortgeführt. Aus „Paradies: Liebe“ zeige ich ein Bild, das der Realität einerseits genau entspricht: Die Kenianer passen Touristen, die baden wollen, am Strand ab. Andererseits musste ich das arrangieren, zeige das Meer, die wartenden Schwarzen, die leeren Liegestühle in einem Tableau.

Und nach dem „Paradies“?
Der nächste Film ist schon abgedreht, eine Dokumentation über das Verhältnis der Österreicher zu ihrem Keller. Das ist die Domäne der Männer, angefangen vom Hobby- und Fitnesskeller bis zum Keller als Ort der Finsternis, des Geheimnisses, der Angst … und des Verbrechens.

„Ulrich Seidl. Paradies“, C/O Berlin, bis 17. März

Dazu erscheint bei Hatje Cantz „Paradies: Liebe Glaube Hoffnung“ mit Texten von Elfriede Jelinek, Marina Abramović und anderen, 180 Seiten, 35 Euro.
Performance und Buchpräsentation bei C/O Berlin am Sonntag, 10. Februar 2013, um 16 Uhr

Weltpremiere von „Paradies: Hoffnung":
Berlinale-Palast, Berlin, Freitag 8. Februar, 22 Uhr

Deutscher Kinostart von „Paradies: Glaube“ am 21. März, von „Paradies: Hoffnung“ am 16. Mai