Modelabel Pyer Moss

Wir sehen uns in einer neuen Welt

Dass die neue US-Regierung vieles anders machen will, zeigt sich auch an ihrer Kleiderwahl. Vizepräsidentin Kamala Harris trug vor der Amtseinführung einen Entwurf von Kerby Jean-Raymond, einem der politischsten Designer und Künstler der Stunde

Wie lange werden uns wohl die Memes von Bernie Sanders, zusammengesunken auf einem Campingstuhl, mit Maske, selbstgestrickten Fäustlingen und khakifarbener Rentnerjacke bei Joe Bidens Inauguration begleiten? Der demokratische Senator und Präsidentschafts-Favorit vieler linksliberaler Millenials wurde in historische Settings, Selbsthilfegruppen und Kunstwerke montiert. "This couldve been an email" steht in einem Fall unter dem eher trübsinnigen Bild.

Aber nein, Bernie! Denn seit Barack Obama 2008 den Pop-Glamour ins Weiße Haus holte, gab es nicht mehr so viel Zeitgeist in der Politik zu sehen. Die Amtseinführung war gespickt mit Performances, Berühmtheiten und Mode-Statements, die Erleichterung über Trumps Abzug verkörperten und Hoffnung machten. Die Lyrikerin Amanda Gorman war mit einem gepolsteren roten Satin-Haarreif von Prada gekrönt, Kamala Harris Stieftochter, die Design-Studentin Ella Emhoff, kam im Edelstein-besetzten Miu-Miu-Mantel, Lady Gaga in einem ausladenden Elsa-Schiaparelli-Kleid. Und Kamala Harris selbst trug einen königlich lilafarbenen Wollmantel des CFDA-Preisträgers Christopher John Rogers, einem aufstrebenden Schwarzen Designer aus New York.

Schon vor der eigentlichen Zeremonie zur Amtseinfürung hatte Harris mit der Wahl ihres Outfits ein politisches Statement gesetzt. Am Abend vor der Inauguration trug die erste Vizepräsidentin der USA einen kamelfarbenen, scharf geschnittenen Wollmantel des New Yorker Labels Pyer Moss. Zusammen mit ihrem Ehemann Douglas Emhoff, Präsident Joe Biden und dessen Frau Jill gedachte sie in Washington der rund 400.000 Covid-19-Todesopfern in den USA. In den darauffolgenden Stunden sprang laut der Modeplattform Lyst die Google-Suche für "Pyer Moss Mantel" um 734 Prozent nach oben, die Website der Marke wurde 127 Prozent mehr geklickt. Auch ein anderer Name war plötzlich überall: Kerby Jean-Raymond, der Designer hinter Pyer Moss und einer der spannendsten Figuren zwischen Kunst, Mode und Aktivismus der Gegenwart.

 

Kerby Jean-Raymond wurde als Kind haitianischer Eltern in Brooklyn geboren und lebt noch heute in New York. Er hat einen Bachelor-Abschluss in "Business Administration" und arbeitete als Freelancer für Marken wie Marc Jacobs und Badgley Mishka, bis er 2013 sein eigenes Label Pyer Moss gründete, das er auf der Website als Kunstprojekt beschreibt. 2018 gewann er den ersten Preis des "Council of Fashion Designers of America", dem jährlich vergebenen Award des "Vogue Fashion Fund", der mit 400.000 Dollar dotiert ist. Im gleichen Jahr launchte Reebok by Pyer Moss, eine Kollektion in Zusammenarbeit mit dem Sneaker-Giganten. Kerby Jean-Raymond ist erfolgreich, in dem was er tut.

Aber das reicht ihm nicht. Denn für Menschen, die ihn nicht kennen, außerhalb der Studios, in denen er arbeitet, ist er vor allem ein Schwarzer Mann aus Brooklyn. Er wird nicht respektiert, sagt er selbst, bis sie wissen, wer er ist und was er macht. "Ich würde gerne wie ein schwarzer Yohji Yamamoto arbeiten können, und meine Abstammung müsste nicht in meiner Mode sichtbar werden, aber das geht nicht,“ erzählt er in einem Interview im Herbst 2020, nur wenige Monate nach dem Mord an George Floyd in den USA.

In dem Gespräch geht es um sein neustes Projekt in Kollaboration mit der Kering-Gruppe von Kunstmogul Francois-Henri Pinault, der Plattform "Your Friends in New York". Die Trauer und Aggression, die durch regelmässig verübte rassistische Gewalttaten an Schwarzen Menschen immer stärker in ihm wüten, bewegten Jean-Raymond zu diesem Projekt.  Er nennt "YFINY" eine Art Ökosystem, mit dessen Hilfe er eine nachhaltige Umgebung für junge Kreative, vor allem BIPOC, schaffen will. Sie sollen eine Chance haben, langfristig in dieser Industrie zu arbeiten, ohne auf einen Preis oder auf die Mächtigen ganz oben in der kapitalistischen Mode-Riege angewiesen zu sein.

Die erste politische Schau wurde abgestraft

Das Projekt soll eine kreative Plattform sein, die gleichzeitig aufstrebende Marken unterstützt und marginalisierten Gemeinschaften hilft. Kerby Jean-Raymond geht es nicht nur um seine Mode, sondern um Veränderung und Verbesserung für die, die mit ihm kämpfen und die, die nach ihm kommen. So verabschiedet er sich in dem Instagram Post, der "YFINY" vorstellt, hoffnungsvoll mit "Wir sehen uns in einer neuen Welt".

Der Designer hat selbst erlebt, was es heißt, allein dazustehen. Im Jahr 2015 zeigte das Label Pyer Moss seine Frühling/Sommer Kollektion für 2016, in der Jean-Raymond die systematische Polizeigewalt gegenüber Schwarzen anprangerte und der "Black Lives Matter"-Bewegung einen Raum gab. Die präsentierte Kleidung wurde live von dem Graffiti Künstler Gregory Siff bemalt und war übersät von Blutspritzern, die keinen Interpretationsraum ließen, woher sie stammen sollten. Dazu zeigte Jean-Raymond ein 12-minütiges Video, in dem Schwarze Branchengrößen wie Usher die rassistische Brutalität der Polizei verurteilten und Angehörige von durch die Polizei getöteten Menschen sprachen.  

Kerby Jean-Raymonds Investoren sprangen ab, er stand vor dem Bankrott. Bis dahin hatte er sich politisch nicht öffentlich geäußert, obwohl ihm oft danach war. "Ich hatte nie das Gefühl, dass Platz für mich in der Mode war, deswegen habe ich nie etwas gesagt." Und dann, als er etwas gesagt hatte, wurde er dafür bestraft. "Ich war der erste Märtyrer der Mode, weil ich über race gesprochen habe." Gerettet wurde Pyer Moss letztlich durch die Ermutigung der Sängerin Erykah Badu, die von der Wichtigkeit Jean-Raymonds Arbeit überzeugt ist. "Er kreiert eine Bewegung die größer ist als die Welt der Mode".

 

Kerby Jean-Raymond nutzt Pyer Moss, um einen Dialog herzustellen und Geschichten zu erzählen, immer in Zusammenarbeit mit weiteren Künstlerinen und Künstlern, sowie anderen Marken, die für eine Saison ihre Ideen in die ganze Performance einfließen lassen und seine Community vergrößern. Pyer Moss Laufstege kommentieren immer wieder das gesellschaftliche Geschehen. Dabei ist die marginalisierte Rolle von Schwarzen Menschen in der US-amerikanischen Geschichte, das Erzählen ihrer Freude und ihres Leidens, Zentrum von Jean-Raymonds Tun. "Dieser ewige Trott, bei dem wir das Gefühl haben, dass wir besiegt werden - das muss nicht sein. Wir werden ihn überwinden, indem wir mehr und mehr Beispiele haben, die uns zeigen, dass wir lebensfähig sind und dass wir die Zeit des anderen wert sind."

Kerby Jean-Raymond versucht, das Denken darüber zu ändern, wer ein Teil der "amerikanischen Mode" sein darf. Und der US-amerikanischen Geschichte. Oft werden Schwarze Menschen als "erster oder erste Schwarze in diesem Gebiet" vorgestellt, und oft ist das falsch. "Wir haben auch eine Geschichte," sagt der Designer in einem Gespräch mit dem multidisziplinären Künstler Derrick Adams, mit dem er für seine Frühling/Sommer 2019 Kollektion zusammen arbeitete.

In seinen drei letzten Kollektionen widmete sich Jean-Raymond der US-Popkultur, aus der Sicht der Schwarzen Community. "American, Also" heißt die Serie, in der die Kreativität und der Einfluss Schwarzer Menschen auf die Geschichte Amerikas neu gewichtet werden soll. Die einzelnen Episoden nannte Jean-Raymond "Lessons".

"Du musst nicht außergewöhnlich sein, um Aktivist zu sein"

Die Serie beginnt mit der Pyer Moss Show im Februar 2018, in der es um die Geschichte der Schwarzen Cowboys des 19. Jahrhunderts ging. Die Kollektion im September des gleichen Jahrestrug den Titel "Normal" und erzählte die Erlebnisse der durchschnittlichen Schwarzen Familie in Amerika. Hier kollaborierte Pyer Moss mit Derrick Adams. Zehn von dessen Malereien übersetzte Jean-Raymond als Print auf seinen Designs, sie zeigen Szenen der Freizeitgestaltung der Schwarzen Community: gemeinsames Grillen, draußen sitzen - ganz normal und doch mit Mission. "Wir werden daran arbeiten, die Kluft zwischen Mode, Kunst und Menschlichkeit zu schließen" sagte Jean-Raymond. "American, Also; Lesson 3", der letzte Teil, heißt "Sister" und betrachtet das Werk von Sister Rosetta Tharpe, einer Musikerin, die den RocknRoll erfand, was ihr in dem Sinne jedoch nie zugeschrieben wurde.

Der Designer und Künstler arbeitet außerhalb des vorgegebenen Mode-Systems. Er überspringt Saisons, wenn er das Gefühl hat, seine Kollektion brauche noch mehr Zeit zu reifen und lässt seine Community an seinen Werken teilhaben, gibt Künstlerinnen und Künstlern Raum, teilt das, was er erreicht hat. "Ein zeitgemäßes, soziales Experiment" nennt er Pyer Moss. Im Herbst 2020 startete er einen Aufruf, seinem Team dabei zu helfen, eine Arbeit zu kreieren, die den Ethos des Labels widerspiegelt. "Open Studio" heißt das Projekt und soll nach dem strapazierenden Jahr 2020 ein Weg sein, wieder zueinander zu finden. Models, Stylisten, Fotografinnen, Setdesigner und Hair- und Makeup-Arstists aus seiner Fanbase kamen zusammen und produzierten ein Fotoshooting für die neuste Kollektion des Labels. "Open Studio ist unser Weg, unserem Publikum zu helfen, dieses Kunstprojekt zu kreieren, dass ich Pyer Moss nenne," erklärte Jean-Raymond.

Und er half auch während der dunkelsten Corona-Tage in New York im letzten Frühling. Jean-Raymond spendete 50.000 Dollar für kleine, von Minderheiten und Frauen geführte Kreativunternehmen, die sich in einer Notlage befanden. Auch ließ er die Studios von Pyer Moss rasch in ein Spendenzentrum für N95-Masken und Latexhandschuhe umwandeln, dazu spendete er 5000 Dollar für die Beschaffung dieser Materialien. Er will sich kümmern, und das wünscht er sich auch von denen, die ihm zusehen, aber ihre Stimme noch nicht einsetzen, um etwas zu verändern. Dafür brauche es gar nicht viel, sagt er: "Du musst nicht außergewöhnlich sein, um ein Aktivist zu sein, du musst dich nur kümmern".

Diese Botschaft hat sich nun auch die neue Vizepräsidentin Kamala Harris zueigen gemacht. Für gerechtere Politik reicht es sicher nicht, den richtigen Mantel zu tragen. Aber ein starkes Zeichen zu Beginn einer Amtszeit ist es allemal.