Geteilter Turner Prize 2019

Kein Opfer, aber ein Zeichen

Auf eigenen Wunsch teilen sich die vier Nominierten den Turner Prize 2019. Der Stunt lässt sich kaum als selbstloser Verzicht interpretieren. Doch die Künstler haben ihr Privileg genutzt, um eine Debatte über systemische Vereinzelung anzustoßen

Das Gewinnen von Preisen ist eigentlich ein streng durchchoreografiertes Ritual. Nehmen wir die Oscars: Ein Umschlag, der aufreizend langsam geöffnet wird, ins Unerträgliche verlängerte Spannung, ein Name, ein Aufschrei, zu Tränen gerührte Gewinner am Mikrofon. Die Standard-Einstellung von Ausgezeichneten ist Demut und Dankbarkeit: gegenüber einer Jury, den Eltern/Kindern/Partnern und gegebenenfalls Gott. Bei allen Freudentränen vergisst man leicht, dass das Gewinnen von Preisen im Grunde eine Position der Machtlosigkeit ist - höhere Instanzen entscheiden über die Qualität der eigenen Arbeit.  

Dieses Machtgefälle wurde bereits beim Berliner Preis der Nationalgalerie 2005 angekratzt, als Christoph Schlingensief, der die Verleihung moderierte, die Auszeichnung kurzerhand für ungültig erklärte, weil es "in der Kunst keine Sieger" gibt. Und noch einmal 2017, als sich die vier Nominierten Sol Calero, Iman Issa, Jumana Manna und Agnieszka Polska nicht dankbar und still verhielten, sondern das Prozedere und die Marketing-Maschinerie hinter der Auszeichnung öffentlich kritisierten. Der eigentliche Kunst-Wettbewerb, der am Ende eben doch eine Siegerin hervorbringt, blieb dabei jedoch unangetastet. 

Die konsequente Ablehnung des sportlichen Konkurrenzprinzips erlebte am gestrigen Dienstag jedoch der britische Turner Prize. In einem Brief hatten die Nominierten Tai Shani, Lawrence Abu Hamdan, Helen Cammock und Oscar Murillo die Jury gebeten, den Preis zu teilen und alle von ihnen gleichberechtigt zu Gewinnern zu erklären. Das habe dem Gremium "einiges zu denken gegeben", wie der Jury-Vorsitzende und Tate-Direktor Alex Farquharson erklärte. Letztlich habe sie die unkonventionelle Geste für Solidarität und gegen Polarisierung jedoch überzeugt. 

Künstler reiben sich im neoliberalen Wettbewerb auf 

Die überwältigend positive Resonanz aus der Kunstszene zeigt, dass das frisch gekürte Preisträger-Kollektiv einen ziemlich gereizten Nerv getroffen hat. Viele Künstlerinnen und Künstler sind es leid, sich in einem neoliberalen Wettstreit um Sichtbarkeit und finanzielle Ressourcen aufreiben und gegeneinander ausspielen zu lassen. Das Bild von einem Team von Gewinnern, das sich gegenseitig Erfolg gönnt (im Gegensatz zu einem strahlenden und drei bedröppelten Gesichtern), sendet Signale, die auch außerhalb der Kunst gehört werden können. Die Möglichkeit des Nicht-Einverstanden-Seins und der Abwandlung des Ellenbogen-Prinzips ist in der Welt.

Der Tod des Turner Prize oder gar die disruption des kapitalistisch motivierten Kunstsystems (wie teilweise in den sozialen Medien zu lesen) ist die Geste jedoch nicht. Denn sie kann erst wirken, wenn die Preis-Maschinerie mit der einhergehenden Aufmerksamkeit bereits in Gang ist. Eine diskrete Ablehnung, überhaupt nominiert zu werden, hätte eine ähnliche Botschaft, aber nicht annähernd denselben Effekt. Die Nominierten haben also ihren Status von Auserwählten genutzt, um diesen dann wieder von sich zu weisen. 

Jackpot in der Aufmerksamkeitsökonomie

Außerdem steht die Möglichkeit einer öffentlichkeitswirksamen Verweigerung nur den Künstlerinnen und Künstlern zur Verfügung, die im Kunstsystem bereits gesehen werden. Man muss sie sich leisten können. Für einen etablierten Kunstmarkt-Star wie Oscar Murillo ist ein geteilter Turner Prize karrieretechnisch irrelevant - oder sogar vorteilhafter als der Solo-Sieg, der wahrscheinlich als Triumph von muskulöser Marktkunst kritisiert worden wäre.

Auch bei den anderen Nominierten lässt sich zumindest vermuten, dass der Viertelpreis - der zweifellos in die Kunstgeschichte eingehen wird - der garantierte Jackpot der Aufmerksamkeitsökonomie ist. Selbst, wenn die Chance auf eine Einzeltrophäe geopfert wird: Der Stunt lässt sich kaum als selbstloser Verzicht interpretieren. Bei den Künstlern gibt es nur Gewinner. 

Mehr als eine tränenfeuchte Dankesrede

Trotzdem heißt das nicht, dass nicht ein aufrichtiger Wunsch nach Veränderung hinter dem Schulterschluss steckt. Auf dieser Ebene des Kunstbetriebs ist es schlicht unmöglich, Entscheidungen zu treffen, die unbezweifelbar "gut" sind. Schon der Gedanke an den moralisch optimierten Aktivismus klingt verdächtig neoliberal.

Das diesjährige "Turner-Kollektiv" hat sein Privileg genutzt, um eine Debatte über Wege aus der systemischen Vereinzelung anzustoßen. Irgendjemand muss anfangen, am besten die, die gesehen werden. Im schlechtesten Fall ist die Aktion ein zartes Rütteln an den Säulen eines Betriebs, der sich über die PR freut und sich strukturell unbeeindruckt zeigt. Im besten Fall kann die Geste jedoch weiterwirken und neue Handlungs- und Denkräume für Künstler öffnen. Allemal mehr als eine weitere tränenfeuchte Dankesrede.