Jeremy Deller in Hannover

"Kinder und Künstler sind Seelenverwandte"

Für Jeremy Deller sind Kinder das ideale Publikum: neugierig, ehrlich und begeistert vom kreativen Chaos. Nun hat der britische Künstler in Hannover eine Ausstellung kuratiert, die Kunst aus Kinderaugen zeigt. Wir haben mit ihm darüber gesprochen

Publikum betrachtet Werk im Museum – diese Konstellation vermeidet der britische Künstler Jeremy Deller leidenschaftlich. Statt Dingen stellt er Situation her, legt in aberwitzigen kulturellen Kurzschlüssen historische Verbindungen und Mentalitätsgeschichte offen und zeigt, dass politische Kunst auch Spaß machen kann. 

In seinem Projekt "Acid Brass" ließ er eine Blaskapelle Acid House spielen – und gedachte so dem epochalen Streik der britischen Bergarbeiter gegen die Thatcher-Regierung. Stonehenge baute er als Hüpfburg nach (das zu den Olympischen Spielen in London eröffnete "Sacrilege" drückte auch Dellers Abneigung gegen organisierten Sport aus), er kollaborierte mit dem KLF-Sänger Bill Drummond und initiierte 2015 einen Zeichenkurs, bei dem die Popikone Iggy Pop für Aktzeichnungen Modell stand

Für seine Videostudie über George Bushs Heimatstaat Texas, in dem Gegner und Anhänger des früheren US-Präsidenten zu Wort kommen, erhielt Deller 2004 den Turner Prize. Und als er 2013 den britischen Pavillon auf der Venedig-Biennale bespielte, ließ er dort Paraden auffahren und ein Archiv für Folk-Art eröffnen, das Alltagskultur und Hobbykunst aus allen sozialen Schichten versammelte. 

Jeremy Deller, vor zwei Jahren haben Sie das retrospektive Künstlerbuch "Art is Magic" veröffentlicht, Untertitel: "Ein Kinderbuch für Erwachsene". Jetzt kuratieren Sie in Hannover "Eine Ausstellung für Kinder (und andere Leute)". Was ist Ihr Interesse an Kindern und ihrem Verhältnis zur Kunst? 

Ich denke, dass Kinder von Natur aus ein gutes Kunst-Publikum sind. Sie sind ziemlich aufgeschlossen, und sie scheren sich nicht um den Wert eines Werks, die Kunstgeschichte oder die Biografie des Künstlers. Und weil sie das nicht interessiert, sehen sie Kunst auf eine sehr instinktive, saubere Art und Weise. Sie sind fasziniert von Prozessen, von Menschen, die etwas auf die Beine stellen, von Ritualen, von Aktivitäten. 

Aber gelten nicht gerade die zeitgenössische Kunst und insbesondere die Konzeptkunst, zu der auch Ihr Werk gezählt wird, als vermittlungsbedürftig? Als "zu intellektuell" für Kinder?

Aber das ist sie nicht! Konzeptkunst empfinde ich im Großen und Ganzen als sehr ansprechend für Kinder. Kinder sind davon fasziniert, weil es darin um Chaos und Fehlverhalten geht. Darum, die Realität zu stören und deine eigene Realität zu erschaffen, sich schlecht zu benehmen und das zu tun, wofür du nicht bestimmt bist. Viele Vertreter der klassischen Performancekunst aus den Siebzigern – also Leute wie Marina Abramović – sind mit Charlie Chaplin, Buster Keaton oder Laurel und Hardy im Fernsehen aufgewachsen, was großen Einfluss auf ihr Werk hatte. Den eigenen Körper in unmögliche Situationen zu bringen, mit einer Welt des Schmerzes Slapstick zu spielen und in einer Umgebung, in der sich alle brav benehmen, Chaos zu stiften: das ist etwas sehr Mächtiges. Kinder verstehen das, und gerade deshalb fasziniert sie zeitgenössische Kunst, weil Erwachsene sich darin wie Kinder benehmen. Kinder und Künstler sind Seelenverwandte. Für mich zumindest sind sie ein wirklich gutes Publikum.

Und doch sind Kinder in der konventionellen Museumswelt eher unwillkommene Gäste: Sie dürfen nichts anfassen, müssen leise sein, dürfen nicht herumlaufen… – und tatsächlich kann der plärrende Nachwuchs bei der kontemplativen Kunstbetrachtung auch ziemlich nerven, oder?

Stimmt, manchmal sind Kinder im Museum ein Alptraum. Wenn ich mir in der National Gallery in London Gemälde Alter Meister ansehe und da schreien Kinder herum, will ich sie am liebsten rauswerfen. Jetzt habe ich mir selbst irgendwie widersprochen, aber ich denke, es hängt von der Art Museum, von den Räumen und den ausgestellten Werken ab. In einem Museum für zeitgenössische Kunst sind Kinder meiner Meinung nach sehr gut aufgehoben, weil es eine Welt voller Ideen und Fehlverhalten ist. Oft schauen sie sich Dinge an den Wänden an, die aussehen, als hätten sie selbst sie machen können – abstrakte Malerei oder so etwas. Es geht nicht um technische Fähigkeiten, es geht um Gefühle, und ich denke, das ist etwas, was sie anspricht. 

Entspricht das nicht genau den Vorurteilen über zeitgenössische Kunst? Ein Typ steht vor einem Mark-Rothko-Gemälde und spottet: Das hätte auch mein Fünfjähriger hingekriegt!

Genau, aber als Künstler sollte man das als Kompliment auffassen! 

So wie in diesem berühmten Picasso-Zitat: "Ich habe mein Leben lang dazu gebraucht, wieder wie ein Kind malen zu können."

Picasso ist ein gutes Beispiel, weil seine Arbeit für Kinder attraktiv ist. Er malt ein Gesicht mit zwei unterschiedlich großen Augen und einer Nase, die zu weit rechts hängt; oder ein Porträt von der Seite, auf dem trotzdem beide Augen zu sehen sind – das sind Sachen, die Kinder intuitiv verstehen. 

Wie ist die Idee zu Ihrer neuen Ausstellung in Hannover entstanden?

Christoph Platz-Gallus, der Direktor des Kunstvereins, hat mich eingeladen, weil ich vor 25 Jahren ein Projekt zur Expo in Hannover gemacht habe und die Stadt jetzt dieses etwas krumme Jubiläum begeht. Ich habe damals für meine Performance "Has The World Changed or Have I changed?" einen Clown über das Gelände der Weltausstellung schlendern lassen – aus dem begleitenden Videomaterial habe ich jetzt einen neuen Film geschnitten. 

Betrachtet Ihr Clown die Expo durch die Augen eines Kindes?

Gewissermaßen schon. Er ist im Grunde permanent verwirrt über das Technologie-Gerede, er ist fehl am Platz und man sieht es ihm an, weil niemand sonst so angezogen ist wie er. Es ist seltsam, wie schlecht alle anderen angezogen sind. Vielleicht habe ich an einem Regentag gedreht, aber irgendwie sehen alle bedröppelt aus. 

Welche Kunstwerke sind in Hannover jetzt noch zu sehen? 

Ich habe eine Reihe befreundeter Künstlerinnen und Künstler eingeladen, die bereits mit Kindern gearbeitet oder sich künstlerisch mit ihnen beschäftigt haben. Francis Alÿs ist mit seiner meisterhaften Videodokumentation von Kinderspielen aus allen Weltregionen dabei,  und wir zeigen den berühmten Film "Der Lauf der Dinge" von Peter Fischli und David Weiss. Von Eva Rothschild kommt ein Video, in dem Jugendliche in einem Raum mit ihren Skulpturen zu sehen sind und sie nach und nach zerstören; ein absolut süchtig machendes Werk! Auch Roman Ondaks "Measuring the universe" war für mich sehr wichtig: Sobald die Besucher den Ausstellungsraum betreten, spricht sie jemand an und markiert ihre Größe an der weißen Wand. So wie Eltern es zuhause mit ihren Kinder tun, um deren Wachstum zu dokumentieren. Es ist eines dieser Werke, von denen du denkst, verdammt, ich wünschte, ich hätte die Idee gehabt. 

Was fasziniert Sie so daran?

Es ist einfach, demokratisch, eine schöne Idee. Es existiert in deinem Kopf, übernimmt deinen Verstand und du denkst die ganze Zeit darüber nach. Von David Shrigley kommt eine überlebensgroße Skulptur, die den Raum in eine Zeichenschule verwandelt. Ryan Ganders Installation "Haben Geister Zähne? Deine Fragen in einer Welt, die nur Antworten will“ besteht aus 2000 Fragen von Kindern, die auf kleine schwarze Plastikbälle gedruckt sind. 

Zu meinen Favoriten zählt: "Bekommen Wolken Sonnenbrand?". Haben Sie eine Lieblingsfrage?

Viele. Und ich habe während der Ausstellungsvorbereitung jetzt auch darüber nachgedacht, welche Frage ich gerne stellen würde.

Und?

Meine Frage wäre: Sind Tiere kitzelig? Lachen sie, wenn du sie kitzelst?

Ganders Arbeit verknüpft die Kinder- mit der Erwachsenwelt, das Spielerische mit dem Philosophischen. Kindgerechte Kunst muss nicht unbedingt kindisch und albern sein, oder? 

Ich denke nicht. Und Museen müssen nicht unbedingt Malkurse mit lustigen Farben anbieten, um Kinder anzulocken, auch wenn das leider oft alles ist, was ihnen dazu einfällt. Ich bin überzeugt, dass Kinder auch mental stimuliert werden wollen.

Kuratiert man eine Ausstellung für Kinder anders?

Sie fühlen sich in einer Umgebung wohl, wo sie die Menschen, die Künstler, spüren können, auch wenn sie die Idee des Kuratierens nicht wirklich verstehen. Manchmal reichen dafür schon Kleinigkeiten wie etwa niedrig gehängte Bildschirme und in ihrer Sprache verfasste Wandtexte, die freundlich sind, ohne herablassend zu sein. Institutionen sind ziemlich gut darin, herablassend zu sein, aber nicht sehr gut darin, freundlich zu sein. Sie sprechen viel über die Öffentlichkeit, aber eigentlich haben sie Angst vor der Öffentlichkeit. 

Warum ist das so? 

Ich weiß es nicht. Ein Grund ist sicherlich, dass es den Institutionen mehr um ihre Gebäude geht als um das, was in ihnen zu sehen ist. Wenn sie glauben, die Kontrolle über ihr Gebäude zu verlieren, beunruhigt sie das sehr. Als Künstler hatte ich im Großen und Ganzen nie Probleme mit der Öffentlichkeit – die Probleme kommen bei der Arbeit mit der Institution.

Wie haben Sie selbst als Kind die Kunstwelt wahrgenommen? Haben Ihre Eltern Sie in Museen oder Galerien mitgenommen?

Ja. In der Nähe unseres Hauses gab es ein altmodisches anthropologisches Museum, vermutlich war die Hälfte der Exponate von irgendwo gestohlen, aber für mich als Kind war es dort unter diesen ganzen obskuren Objekten aus aller Welt sehr aufregend. Ich war auch oft im Imperial War Museum und fasziniert von all diesen Panzern, Bomben und Raketen – schrecklich, wenn man jetzt drüber nachdenkt. Aber so waren die 70er. Ich fühlte mich sehr wohl in der Museumskultur. 

Später besuchten Sie eine Londoner Privatschule. Ich habe gelesen, dass Sie dort aus der Kunstklasse geworfen wurden. Wie kam es dazu?

Rausgeworfen ist etwas übertrieben, ich wurde hinausgedrängt. Der Lehrer mochte mich nicht. Es ist unglaublich, wie schnell Lehrer eine Abneigung gegen ein Kind entwickeln können - oder natürlich auch andersherum ein Kind eine Abneigung gegen einen Lehrer empfinden kann. Ich war einfach nicht bereit, zu tun, was er wollte, weil ich es langweilig fand und dumm. Ich war nicht störend, aber ich war einfach nicht kooperativ. Was dazu führte, dass er mich nicht mehr im Raum haben wollte.

Ihre Projekte haben stets eine direkte, unbefangene Art. Sie sprechen eine demokratische Sprache, hebeln sie die Kunstblase aus. Steckt dahinter auch ein Aufbegehren gegen den Elitismus Ihrer eigenen Erziehung?

Die Art Privatschule, die ich besuchte, ist dazu da, dich elitär zu machen. Sie lieben die Idee der Elite, und wie eine Menge Dinge der englischen Kultur sehen sie äußerlich sehr schick und geordnet aus, aber innen ist es irgendwie verfault. Wenn man sich in der City of London umschaut, sind dort alle gut angezogen, sie sprechen nett und haben Manieren. Aber hinter der Fassade tun sie schreckliche Dinge und das schon seit Ewigkeiten. Aber sie machen es auf eine Art und Weise, dass es so aussieht, als wäre es zivilisiert. 

Wie sind Sie zur Kunst gekommen?

Nachdem ich keinen Kunstunterricht an der Schule gehabt hatte, konnte ich nicht zur Kunstakademie gehen, ich hatte keinerlei Arbeiten, kein Portfolio, mit dem ich mich hätte bewerben können. Ich habe dann Kunstgeschichte studiert, was definitiv nicht dasselbe ist. Für einen Job als Kunsthistoriker war ich aber nicht geeignet – was ich konnte, war Bilder machen, mir Ideen überlegen, Dinge auf die Beine stellen. Das Gute war, dass man damals – Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre – Künstler werden konnte, in dem man einfach rumhing und sich durchschlug. You live by your wits, wie wir in England sagen. 

Was wünschen Sie sich für Ihre Hannoveraner Ausstellung?

Ich möchte, dass möglichst viel los ist und die Leute Dinge tun, als seien sie auf einem Spielplatz. Auf einem Ideenspielplatz, an dem ihr Geist und ihr Körper frei herumlaufen und begeistert sein können.