Michaela Melián in Berlin

Verheddert in den roten Fäden

Die Künstlerin und Musikerin Michaela Melián schafft in ihrer Ausstellung im Berliner Kindl-Zentrum eine komplexe Collage aus Geschichte und Geschichten. Wir treffen eine Guerilla-Kämpferin - und alle großen Themen des 20. Jahrhunderts 

 

"Gudrun Ensslin
War bis zu ihrem Ende
Ein fesches hübsches Girl geblieben

Dann hat sich Gudrun Ensslin
Traum aller Jungs
An ihrem Zellenfenster irgendwie
Ganz einfach aufgehängt frag mich nicht wie

Und die Genossen singen
'La-la-la La-la-la La-la-la…"


Der Song "Gudrun E." aus den 1980ern stammt von der Gruppe Freiwillige Selbstkontrolle, die sich ab 1989 nur noch kurz F.S.K. nannte. Neben dem Popliteraten Thomas Meinecke, dem Kurator und heutigen Leiter des Kunstvereins Wolfsburg Justin Hoffmann war Michaela Melián Mitgründerin der Avantgarde-Band.

"Frag mich nicht wie" wäre kein schlechter Titel ihrer Ausstellung im Berliner Kindl-Zentrum, die sie als bildende Künstlerin bespielt. Am meisten Raum nimmt dort eine Art künstlerischer Versuch über – nein, nicht Gudrun Ensslin, sondern die Guerilla-Kämpferin Tamara Bunke ein. Grob vergleichbar mit der RAF-Terroristin bezahlte die Revolutionärin, die als Jugendliche in Ost-Berlin lebte, für ihre sozialistischen Überzeugungen mit dem Leben. Doch vor allem scheint es Melián bei der Werkgruppe "Tania" (nach dem Kampfnamen Bunkes) um die Leerstellen ihrer Biografie zu gehen. Was Leben und Tod Tamara Bunkes angeht, behauptet die Künstlerin nicht, sie wüsste "wie". 

In ihrer ersten Berliner Überblicksschau zeigt die 1956 in München geborene Künstlerin und Musikerin dem Prinzip Collage verpflichtete Arbeiten. In allen widmet sie sich entweder historischen Artefakten oder Persönlichkeiten. Wie in Meliáns Videoinstallation "Speicher" kommen in einzelnen Werken oft verschiedenste Ebenen zusammen. Dort wechseln sich die Filmbilder einer Autofahrt durch die Winternacht mit vermeintlichen Aufnahmen aus einem Flugzeug ab, das über Felder segelt. Aber nein, zu sehen ist ein mit struppigen Nähmaschinenzeichnungen versehenes Tuch.

Plüschwaffen und eine Hommaga an die Kämpferin Tania

Wie aus den Boxen zu hören ist, kreist "Speicher" auch akustisch, mit gesprochenen Texten und Musik um das Motiv der Reise. 2008 konzipierte Melián diese Hommage an eine verschollene Multimedia-Installation. "VariaVision. Unendliche Fahrt" von Edgar Reitz und Alexander Kluge wurde 1965 für einige Wochen in der Internationalen Verkehrsausstellung in München gezeigt. "Red Threads" lautet der Titel der Ausstellung, in der viele Erzählstränge versponnen sind. Wie kann es auch bloß einen einzigen roten Faden geben, wo beharrlich Vergangenes und Gegenwärtiges verknüpft sind? Dass man sich in den Fäden verheddern kann, ist wahrscheinlich beabsichtigt.

Vermeintlich leicht konsumierbar fängt es an, mit knautschigen Kissen in Modefarben auf der ersten Wand, die allerdings Maschinengewehren nachgebildet sind. Auch das rote Sofa, das Lust auf ein Nickerchen macht, entspricht dem Umriss der Handfeuerwaffe Mossberg Bullpup (deutsch: Bulldoggenwelpe), die als "Selbstverteidigungswaffe" auf den US-Markt kam, aber auch vom Los Angeles Police Department verwendet wurde.

Von der Verstrickung in Gewalt – einem sehr zeitgenössischen Gefühl angesichts der überfallenen Ukraine – kündet auch der "Tania"-Werkzyklus, aus dem die jüngsten Werke der Ausstellung stammen. Ein Wandbild, eine Soundinstallation, eine bedruckte Fahne und Zeichnungen fügen sich zu diesem unscharf gehaltenen – nun ja – Porträt der 1937 in Buenos Aires geborenen Tamara Bunke, die nach dem Krieg mit den Eltern in die DDR übersiedelte, sich in den 1960ern in Bolivien der Guerilla um Che Guevara anschloss und den Kampfnamen Tania wählte. 1967 geriet sie in einen Hinterhalt und wurde erschossen. Ihre Eltern waren aus Nazideutschland ins argentinische Exil geflohene Kommunisten, der Vater Deutscher, die jüdische Mutter stammte aus Odessa.

Panflöte und Revolutionslieder

In Tamara Bunkes Geschichte kreuzen sich mit Totalitarismus, Krieg, sozialistische Moderne, Emanzipation und Befreiung die Themen des 20. Jahrhunderts. Bunkes Identität ist eine Frage von Zuschreibungen und ideologisch gefärbten Sichtweisen – in Ostdeutschland wurde sie gefeiert, im Westen eher vergessen – und lässt sich gleichsam nur aus unzuverlässigen Erzählungen, gefälschten Dokumenten und der Tarnidentität Tanias als Anthropologin zusammensetzen.

Die raumhohe "Fahne Tania" zeigt auf weißem dünnen Stoff ein bereits 1989 erstelltes Phantombild aus dem Fahndungscomputer des LKA München. Die Künstlerin hatte dem zuständigen Beamten ein Foto Bunkes mündlich beschrieben, der für die Rekonstruktion aber nur auf Männergesichter in der Datenbank zurückgreifen konnte. Für das ikonische Konterfei Che Guevaras gibt es kein weibliches Gegenstück. Tania als verblassender Mythos, als Leerstelle. 

Das Radiergummi als passendes Werkzeug für ein Wandbild: Mosaikhaft wirkt das Bild, das ähnlich einem Filmband auf zwei Spulen um die Wand herumläuft wie ein Loop (eigentlich läuft das Publikum herum). Es besteht aus mit Radierern aufgestempelten "Pixeln", die – mit Abstand betrachtet – Lebensstationen von Bunke zeigen oder indigene Skulpturen, die sie in ihrer Parallelexistenz als Ethnologin Laura Gutiérrez Bauer untersuchte. Im Rucksack der erschossenen Kämpferin wurden Tonaufnahmen der Musikkulturen gefunden, die Bauer alias Bunke erforschte. Daher ist Inka-Flötenmusik aus den Lautsprechern im Ausstellungsraum zu hören, neben Protest- und Revolutionsliedern.

Gleichzeitig tiefenscharf und mühsam zu lesen

Der Sound mischt sich mit der Glasharfenmusik, die zur Installation "Heimweh (Else Lasker-Schüler)" von 2012 gehört. Wie ein Leuchtturm wirft ein Diaprojektor mit rotierendem Prisma davor bewegliche Reflexionen von Gläsern, Karaffen und Plastikobjekten der fragilen Tischlandschaft auf einen Vorhang. "Girl-Kultur" ist wiederum eine großflächige Teppicharbeit von 2019, auf der sich gezeichnete Küchenentwürfe aus den 1920ern schwindelerregend überlagern. Neues Bauen, die (den Frauen vorbehaltene) Weberei am Bauhaus, Fragen von Emanzipation und Gender(un)gerechtigkeit spielen hinein.

Meliáns Werk aus lauter "roten Fäden", die im Kindl-Zentrum zusammenlaufen, wirkt wie ein Palimpsest: gleichzeitig tiefenscharf und mühsam zu lesen. Vielleicht denkt man auch nicht zu viel nach und lässt sich treiben wie eine Schneeflocke. Zum Chillen bieten sich die 2016 für eine Bibliothek entworfenen "Mannheim Chairs" an, die von der Decke hängen. Zum sitzen, schaukeln, hypnotische Musik lauschen und durchs Fenster die Silhouette einer ehemals in Ost und West geteilten Stadt betrachten. Eine Stadt, die sich verändert hat.


"Jeder redet über meine
Elektronische Hundeleine
Oben auf dem Schloss

Nirgends lässt es sich hinsetzen
Abmontiert die schönsten Plätze
Unten in der Stadt ..."


Der zitierte Song heißt "Taunus Anlage", stammt von der Band F.S.K. und hat mit dem heutigen Berlin natürlich überhaupt nichts zu tun. Es geht ja um Frankfurt am Main!