Margiela-Doku

Das Phantom spricht

Der belgische Designer Martin Margiela stieß manch eine Mode-Tür auf. 2009 zog er sich aus dem Business frustriert zurück. In dem großartigen Doku-Porträt von Reiner Holzemer kommentiert er seinen 20-jährigen Werdegang und lüftet manch einen Schleier

Die Models, allesamt Ende der 1980er auf der Straße gecastet, schwärmen immer noch von seinen Händen. Sie seien bei den Anproben niemals zudringlich geworden. Man merkte sofort, dass man nicht als Objekt betrachtet wurde, sondern als ein Wesen mit eigener Persönlichkeit. Dabei mutete der einstige Assistent von Jean-Paul Gaultier den anfänglichen Amateurinnen einiges zu. Er ließ sie mit einer Strumpf-Maske oder langem Haarschleier vor den Augen auftreten, veranstaltete seine Shows in Parkhäusern und Metro-Stationen und ermunterte sie nicht nur, sich unter das Publikum zu mischen, das mitunter direkt aus einem sozialen Brennpunkt vorbeischaute, sondern es auch anzulächeln, statt sich hinter der üblichen todernsten Miene zu verstecken.

Unorthodoxe Anweisungen wie diese hindern Martin Margiela nicht daran, im amüsiert-melancholischen Ton seine revolutionären Entwürfe zu kommentieren und trotzdem darauf zu beharren: "Ich bin vermutlich zu ernst für diese Welt." Reiner Holzemer, der schon mit seinem Porträt von Dries van Noten zu überzeugen wusste, ist es gelungen, das mythenumwobene Phantom, das die Presse stets konsequent mied und Interviews oder Fotos verweigerte, vor die Kamera zu locken. Den passenden Körper bekommt man bis auf die Hände zwar immer noch nicht zu Gesicht, aber dafür einen aus dem Off über seine Branche hochgradig kritisch reflektierenden Erzähler, einen veritablen Nonkonformisten, der es immer wieder schaffte, die wechselnden Anforderungen mit unerwarteten Ideen zu unterlaufen.

Bereits seine erste Kollektion zitierte die surrealistische Ästhetik und verriet den Einfluss der Dekonstruktionen einer Rei Kawakubo. Den japanischen Tabi-Schuhen verpasste Margiela später einen Absatz, wendete sich mit seinem unbeschrifteten Etikett gegen den Markenkult und färbte die Schuhabsätze seiner Models mit roter Farbe, um den Laufsteg in eine Leinwand zu verwandeln. Wenn er Halsketten einsetzte, dann bestanden sie aus schmelzendem Eis, das auf den Stoffen "live" dramatische Muster produzierte.

Als seine Vergrößerungen von Puppenkleidern, in Strumpfhosen verborgene Schuhe oder die konzeptuelle Recycling-Praxis, aus Secondhand-Fetzen Ballkleider zu entwerfen, plötzlich allzu viele Nachahmer fanden, ging Margiela dazu über, sich selbst mit einer Kollektion des Best-of zu kopieren. Den Unterschied machte die Farbgebung der Kleidungsstücke. Sie waren allesamt grau eingefärbt. Ob der belgische Künstler Hans Op de Beeck hier die Inspiration für seine grauen Parallelwelten fand?

Hoffnung auf ein Comeback

Aufschlussreich auch die wie bei dem Konkurrenten Alexander McQueen bescheidene Herkunft. Margiela wurde als Sohn eines polnischen Friseurs und einer Belgierin in der Bergbau-Stadt Genk geboren. Seine Großmutter, eine Schneiderin, TV-Sendungen über die Pariser Modewelt und bereits in der Kindheit erworbene Barbie-Puppen stellten die Weichen für das spätere Mode-Studium in Antwerpen, bekanntlich angesiedelt an der Kunstakademie, die manch einen Star-Künstler hervorgebracht hat.

Modekritikerinnen, Wegbegleiter und Kollegen bereichern diese mit der Musik der belgischen Indie-Band dEUS unterlegte filmische Retrospektive um weitere Stimmen. Das Innenleben der über Jahrzehnte gesammelten Archivschachteln dient als roter Faden, bis zum Verkauf des Unternehmens Maison Martin Margiela an die Diesel-Gruppe, der zwar für eine Kapitalspritze sorgte, aber auch mit den einziehenden "Branding-Managern" den Verlust der Kontrolle über die kreativen Prozesse nach sich zog.

Die erwünschte Vermarktung im Internet und der steigende Zeitdruck des Modekalenders verdarben Margiela endgültig die Lust an der für ihn überlebenswichtigen "Überraschungsenergie". Er genieße heute seine Zurückgezogenheit, male und versuche sich an Skulpturen. Ob er in der Modewelt alles gesagt habe, fragt ihn Holzemer zum Schluss. Das lakonische, aber entschiedene "No" lässt auf ein Comeback des gar nicht so distanzierten Unsichtbaren hoffen.