Kloake war gestern

„Da geht’s nicht weiter – Sackgasse!“ warnt ein Passant die radelnden Ausstellungsbesucher. Und schon ist der zentrale Punkt des ganzen Unternehmens berührt. Denn wenn es nicht weitergeht, muss trotzdem irgendetwas passieren. Ein neues Konzept von Stadt, eine neue Landschaft zum Beispiel. Oder Kunst.

„Emscherkunst.2010“ ist das größte der Projekte für bildende Kunst im Programm der Kulturhauptstadt Ruhr.2010 und unter vielen Wohlfühlaktionen für die lokale Bevölkerung das eine, das Anschluss sucht an internationales Niveau, vergleichbar den „skulptur projekten“ in Münster. Nur mit größerem Rahmen und letztlich sogar spannender. Denn hier wird der Umbau einer ganzen Region begleitet. Kurator Florian Matzner – gebürtiger Essener, mittlerweile an der Akademie der Bildenden Künste München tätig – hat in mehreren Schwerpunkten die etwa 30 Kilometer lange Emscherinsel bespielt, die sich zwischen Castrop-Rauxel und Oberhausen erstreckt.

So reist man, am besten per Fahrrad, beim Abklappern der Stationen durch ein manchmal absurd ländlich wirkendes Stück Industrieperipherie, eingefasst vom Rhein-Herne-Kanal im Süden und der Emscher im Norden – beziehungsweise dem, was von ihr übrig blieb, denn vor 100 Jahren ist sie in ein System offener Abwasserkanäle verwandelt worden. Jetzt sollen die Kloaken wieder unter die Erde, und der Fluss soll wieder Fluss werden, die Bauarbeiten haben begonnen.

Eine Landschaft, die von Bergbau und Schwerindustrie und ihrem Sterben schon mehrfach buchstäblich von innen nach außen gedreht wurde, wird erneut umgestaltet: Künstlicher kann Natur nicht sein. Welch eine großartige Gelegenheit für die Kunst, noch eins draufzusetzen. Monica Bonvicini ergreift sie, wenn sie auf eine Müllhalde weithin sichtbar den Schriftzug „Satisfy me“ setzt, ein glamourös-silbriges Monument für das menschliche Begehren, das auch am Ende des Industriezeitalters noch regiert. Hinter der vermeintlichen Sackgasse ein paar Kilometer weiter kommt dann eine bizarr-lustige Skulptur von Bogomir Ecker zum Vorschein, die aussieht wie aufgetürmte gelbe Wäschekörbe mit gezackten Löchern drin, beschirmt von einer Straßenlaterne. Beide stehen mitten im Wasser, dort, wo der Rhein-Herne-Kanal sich zu einer Art See erweitert, den die Anwohner mit ortsüblicher Selbstironie als „Herner Meer“ bezeichnen. Der Musiker Bülent Kullukcu hat für Eckers Turm eine Klangkomposition entworfen, die in regelmäßigen Abständen das postindustrielle Idyll mit Klängen aus Istanbul und anderen Orten unterfüttert – der Soundtrack verschiebt die Wahrnehmung, und alles wird plötzlich Filmszenerie.

Das Exponat ist eben nicht zuletzt die Landschaft selbst, und so scheint es nur angemessen, dass auch hinter vielen anderen der insgesamt 20 Projekte auf der „Emscherkunst“-Strecke das Spiel mit dem anderen, dem verfremdeten und dadurch geschärften Blick steckt. Mark Dion hat in einem alten Gastank eine wunderbare Vogelbeobachtungsstation mit dem Ambiente eines britischen Clubs eingerichtet, mitsamt Aussichtsturm. Die niederländische Review Gruppe Observatorium schenkt den Gästen ihres extrem eleganten Holzpavillons, in dem man auch übernachten kann, große Fenster auf die umliegenden Auen: „Warten auf den Fluss“ heißt die benutzbare Architekturinstallation, denn sie bildet schon mal eine Brücke für die Emscher, die dort erst künftig fließen soll.
Olaf Nicolai und Douglas Gordon werden das Eigene und das Fremde zum Verwirrbild überblenden, wenn sie einen Berg aus dem Joshua-Tree-Nationalpark in den USA nachbauen, beschallt von einer Klanginstallation der schottischen Band Mogwai. Und Jeppe Hein hat an verschiedenen Orten Fernrohre aufgestellt – nur sieht man darin nicht das reale Bild des Terrains, sondern Ansichten aus Vergangenheit oder imaginierter Zukunft.

Dieses Morgen schaut auch in Gestalt von Rita McBrides Obelisk aus Carbon schon mal vorbei: ein extrem leichtes Hightech- Material aus Kohlenstofffasern – welche Ironie im Land der toten Zechen! Und die Zukunft stakst auf hydraulischen Beinen heran, mit 200 Metern in der Stunde: Das „Walking House“ der dänischen Künstlergruppe N55 ist eine Wohn-Arbeits-Kapsel für den posturbanen Raum, ein solarbetriebenes Modell nomadisch-autonomer Existenz. So bindet Kurator Matzner auch eine neue Generation mit ein, die Kunst im öffentlichen Raum in soziale, ökologische und wissenschaftliche Experimente verwandelt. Und was anderswo wie ein Gesellschaftsspiel wirken mag, trifft hier das Zentrum der Debatte.

Das Ruhrgebiet habe kein Geld, heißt es immer. Der Umbau der Emscher aber ist zurzeit das größte Renaturierungsprojekt der Welt. Im Verhältnis zu diesem Auftragsvolumen macht „Emscherkunst.2010“ als Kunst am (Landschafts-) Bau nur ein paar bescheidene Prozentpunkte aus – und man könnte sie kaum besser anlegen. Einige Werke sind temporär, einige werden stehen bleiben: eine visionäre Brücke von Tobias Rehberger zum Beispiel, die wegen des überlangen Baustopps im Winter erst im Verlauf des Sommers fertig wird. Vielleicht entsteht aus dem Kulturhauptstadtprojekt auch eine Biennale, zu wünschen wäre es. Keine Sackgasse, auch hier nicht.