Deutscher Pavillon auf der Venedig-Biennale

Eine Archäologie der Gegenwart

Henrike Naumann und Sung Tieu bespielen den deutschen Pavillon in Venedig. Damit gewinnt die Venedig-Biennale zwei junge, aber erfahrene Künstlerinnen, die einen sehr eigenen Kommentar zur politischen Lage liefern dürften

Zwei junge, selbstbewusste Frauen im grauen und schwarzen Anzug stehen auf den Betonplatten vor einer Hochhaussiedlung. Im Hintergrund ist vage der Berliner Alexanderplatz zu erkennen. Früher war hier DDR, heute bröckelt der Modernismus, überschneiden sich die Spannungslinien einer Gesellschaft, die weder mit ihrer Vergangenheit noch mit ihrer postmigrantischen Gegenwart so richtig klarzukommen scheint. 

Henrike Naumann und Sung Tieu haben den Ort für ihr gemeinsames Porträt für den deutschen Pavillon auf der Venedig-Biennale 2026 perfekt gewählt. Und zeigen allein schon damit, dass sie die richtigen Künstlerinnen sind, um in diesem Moment diese Ausstellung zu machen. Beide wurden von Kuratorin Kathleen Reinhardt für die Gestaltung des deutschen Beitrags in den Giardini auserkoren. Und beide sind komplexen Schichten der deutschen Vergangenheit auf der Spur, ohne die die Zentrifugalkräfte der Gegenwart nicht zu verstehen sind. 

Henrike Naumann wurde 1984 in Zwickau geboren und hat als Kind das Ende der DDR und die Wiedervereinigung erlebt. Ihr Großvater war ein bekannter DDR-Maler, dessen Werk nach 1990 vergessen wurde – sie integrierte es später in ihre Ausstellungen. 

Schweifende Neugier und Offenheit

Als sie aufwuchs, war die Jugendszene Zwickaus in der Hand der Neonazis. Der Rechtsterrorismus ist eines ihrer großen Themen, das sie in sorgfältigen Recherchen in Ost und West aufgearbeitet hat. Ein anderes ist die nicht nur ästhetische Zumutung, die die Überflutung der ehemaligen DDR durch die Konsumkultur des Westens darstellte. Mit den Set-artigen Installationen aus Möbeln der Nachwendezeit, die das ironisch und zielsicher aufspießen, wurde sie vor gut zehn Jahren erstmals bekannt. 

Naumann verbindet diese genaue Analyse ihrer Herkunftsgesellschaft mit einer schweifenden Neugier und Offenheit, die sie unter anderem nach Haiti führte, wo sie über Trance und Techno arbeitete, und zuletzt auch ins kriegsgebeutelte Kiew. Kunst und Krieg ist eines der Themen, die sie in den letzten Jahren beschäftigten. Von Henrike Naumann ist in Venedig eine politische Perspektive zu erwarten, deren Engagement aber auch in einer genauen Betrachtung der Alltagsästhetik besteht, eine Archäologie der jüngsten Geschichte und der Gegenwart. 

Ein ähnliches Ziel verfolgt Sung Tieu. Sie wurde 1987 in Vietnam geboren. Ihr Vater war Vertragsarbeiter in der DDR. Als sie fünf Jahre alt war, folgte die Familie ihm ins wiedervereinigte Deutschland – das Aufwachsen in der vietnamesischen Community im Plattenbau ist mehrfach Thema ihrer Arbeiten geworden. 

Geschichten, die vorher nicht erzählt wurden

Kolonialismus, die Wahrnehmung des Fremden, den Alltag migrantischer Gemeinschaften verarbeitet sie in ihren oft sehr konzeptionellen Environments und Installationen: mit Soundarbeiten, aber auch Collagen aus Zeitungen und anderen Recherchematerialien. Dabei erzählt sie ihre Geschichten nie aus, sondern arbeitet mit dem Nicht-Gesagten, den Leerstellen.

Die Nominierung von Henrike Naumann und Sung Tieu bringt zwei junge, aber durchaus schon erfahrene und vielfach ausgezeichnete Künstlerinnen in den Fokus, von denen wir einen sehr eigenen Kommentar zur deutschen Gegenwart erwarten dürfen. Diese Konstellation bringt endlich einmal die Perspektive einer in der DDR geborenen Künstlerin ein, sie bringt eine migrantische Perspektive mit ein, aber der Horizont und die ästhetischen Strategien beider Künstlerinnen überschreiten diese Merkmale gleichzeitig souverän. 

Damit setzt die Nominierung von Kathleen Reinhardt nicht zuletzt die vergangene Biennale-Ausgabe auf interessante Weise fort: Auch Ersan Mondtag und Yael Bartana standen 2024 in Venedig für ein von Migrationsgeschichten und politischen Spannungen geprägtes Deutschland. Und für Geschichten, die vorher nicht erzählt wurden.