Selfie-Kultur

Künstler reinszeniert Selbstporträts von Männern in sozialen Netzwerken

Medien und Werbung sind auf der Suche nach dem neuen Mann, der Künstler Andy Kassier sucht in den sozialen Medien mit. Seine neue Arbeit "How to Take a Selfie" ist eine Sammlung von reinszenierten Statusmeldungen. Kassier erstellt einen Männerkatalog, der die Vielfalt digitaler Identitäten spiegelt

Regelmäßige Leser dieser Kolumne leiden vielleicht unter einer leichten Andy-Kassier-Überdosis. Und jetzt kommt auch noch die volle Dröhnung. Kassier muss immer als Beispiel herhalten, wenn es um Künstler in den sozialen Medien geht – und darüber schreibe ich an dieser Stelle bekanntlich oft. Die großen Erfolgsgeschichten, das strahlende Lächeln des Selfmademan und sein rastloser Selbstoptimierungswahn nerven irgendwann, wenn man selbst nicht so erfolgreich ist. Das sind wir bekanntlich alle nicht. 

Andy Kassier hat Andy Kassier eine Pause verordnet. Seit Anfang des Jahres ist er in Kapstadt, auf Instagram ist das nicht zu übersehen, die Sonne scheint und geht wunderschön unter, Kassier isst und lebt gut. Ab und an ließ er in seinen Instagram-Stories durchblicken: the hustle is real. Zwischen seinem Leben auf dem Golfplatz und in einer Villa produzierte er neue Arbeiten ohne den Andy Kassier, der im Geld schwimmt und in der Sonne badet. 

 

Medien und Werbung sind auf der Suche nach dem neuen Mann, gleichzeitig wird toxische Männlichkeit als problematisch diskutiert: Männer wollen stark sein, sie zeigen keine Schwäche. Männer sollen hart sein, sie zeigen keine Gefühle. Der Künstler Andy Kassiert sucht mit. Wochenlang hat er sich durch Hashtags (#male, #boy), Geotags (Berlin, New York, London, Paris) und Profile auf Instagram geklickt, weil er sich fragte: Wollen Männer heute als stark, weich, erfolgreich oder emotional gesehen werden? Braucht ein Mann Muskeln, um als männlich wahrgenommen zu werden? Welches Outfit verhilft einem Mann zu sozialer Anerkennung? 

1.000 Postings hat er abgespeichert, 60 Fotos sind entstanden. Konzentriert hat er sich auf Motive und Statussymbole, die ihm immer wieder begegnet sind: Muskeln, Autos, Essen, Freunde, Partys, Locations (Hotel, Strand, Natur). In einem zweiten Durchlauf wurden Überschneidungen aussortiert und Beispiele herausgesucht, die statt toxischer (vielleicht auch nur unbewusst) eine fragile Männlichkeit repräsentieren. "Der Emoboy sitzt traurig an Bahngleisen, der Muskelboy zieht nachts mit seinen Freunden durch die Straßen", sagt Kassier. Junge Männer zeigen auf Instagram, wie gut ihr Leben ist und was sie erleben, sie erzählen von Reisen ans Meer und über Ausflüge in die Natur.

"How to Take a Selfie" ist eine Sammlung von reinszenierten Statusmeldungen, die ständig erweitert wird. Kassier präsentiert die Vielzahl von Männerbildern, wie er sie online gefunden hat. Junge Männer testen Geschlechterrollen in den sozialen Medien. Mal lassen sie ihre Muskeln spielen, um eine starke körperliche Präsenz zu erzeugen. Mal stehen sie mit herausforderndem Blick in der Natur, um sich als Abenteurer zu präsentieren. "Die Demonstration von Stärke, Macht und Potenz prägen im Zeitalter der Selbstoptimierung das Männerbild", sagt Kassier, "Männer repräsentieren körperliche Schönheit und Macht."

Selfie meint in der heute gängigen Bedeutung ein Bild, erklärt Kassier, das in den sozialen Medien oder in Messenger-Diensten die eigene Person repräsentieren soll. In seinem jüngst erschienenen Buch mit dem Titel "Selfie" definiert der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich das Selfie als Bild, "das eine Person von sich selbst macht". Das Selfie ist in seiner pointierten Abhandlung ein Bild des eigenen Gesichts, wie schon im Jahr 2014 der Kunstkritiker Jerry Saltz schrieb, aufgenommen im Abstand einer Armlänge. Selfies entstehen spontan und beiläufig, so Saltz damals, Ullrich konzentriert sich denn auch ausschließlich auf Mimik, Grimasse und Gesichtsfilter. Ein Blick in das Hashtag #selfie auf Instagram bestätigt derweil, wie fleißig das Heer von Instagram Husbands und Instagram Boyfriends an der oft sehr durchdachten Selbstinszenierung mitarbeitet. Selfies können weit mehr als das eigene Gesicht zeigen, deshalb braucht es jemanden, der das Foto macht. 

Ende Januar hat die Stiftung der Schauspielerin Maria Furtwängler die Ergebnisse einer Studie zur weiblichen Selbstinszenierung in den sozialen Medien veröffentlicht. Untersucht wurden YouTube, Instagram und Musikvideos. Die Ergebnisse: Frauen sind unterrepräsentiert, die Geschlechterdarstellungen auf YouTube basieren auf "veraltet anmutenden Stereotypen" und auf Instagram sind Frauen erfolgreich, die den gängigen Schönheitsidealen entsprechen (dünn, langhaarig).

Frauen zeigen sich im privaten Raum, geben Mode- und Schminktipps, während Männer das gesamte Themenspektrum (Musik, Games, Unterhaltung, Comedy, Politik) abdecken. Furtwängler gibt sich ratlos: "Die Studienergebnisse haben uns vor eine Reihe von Fragen gestellt, auf die wir als Feministinnen zunächst keine Antwort haben: Warum sind die erfolgreichen Akteur*innen in den neuen sozialen Medien, ausgerechnet die mit den rückwärtsgewandt erscheinenden Geschlechterrollen und wie können wir eine größere Vielfalt sichtbar machen? Dieses Thema geht uns alle an und darüber müssen wir diskutieren."

In den Medien wurden diese neuen alten Erkenntnisse dankbar aufgegriffen und kommentiert. "Die Welt" beispielsweise titelte "Die strickende, geschminkte Frau als ewig gestriges Feindbild", "Die Zeit" klingt ähnlich mit "Nähen, Kochen, Stricken" und "Spiegel Online" zitiert Furtwängler: "Das Frauenbild orientiert sich an den Fünfzigerjahren". Es ist also wie immer alles schlimm oder zumindest so, wie es sich Unternehmen als Auftraggeber wünschen, denn Frauen, Influencerinnen bedienen, was sich mit ihrer Reichweite in Geld umwandeln lässt. 

Kassier hat sich anderswo umgesehen, nicht bei Influencern und denen, die es vielleicht werden wollen. Das haben andere bereits vor ihm getan wie das Männermodeblog "Dandy Diary". Jakob Haupt und David Roth haben im Jahr 2017 Bilder von Modebloggerinnen in einem Video mit dem Titel "Influencers of the 21st Century" und auf dem gleichnamigen Instagram-Account kompiliert. Im Pool reiten sie auf aufblasbaren Einhörnern, vor dem Flughafen stehen sie neben ihren Koffern und beim Coachella-Festival posieren sie vor dem Riesenrad. Und Avocado-Toast mögen sie sowieso. 

Niemand ist einzigartig, Originalität ist ein Fremdwort – nur wollen Influencer eben weder originell, noch einzigartig sein. Sie wissen: Klischees klicken, Wiederholungen klicken. Und Klicks bedeuten wie gesagt Geld. Sehr ähnlich sieht es auch in der Outdoor-Community aus. Das führte letztes Jahr der Instagram-Account @insta_repeat vor. Während die Hashtags in den Bildunterschriften Authentizität und Kreativität versprechen, wird dieses Versprechen zuverlässig gebrochen. Es werden nämlich sehr gute Kopien geliefert, denen kaum mehr jemand das Original zuordnen kann oder will. Wer möchte schon wissen, wer zuerst auf die Idee kam in einer roten Jacke in einem Kanu über einen Bergsee zu paddeln und sich dabei von der dahinter sitzenden Person so fotografieren zu lassen, dass das Bergpanorama erhaben im Hintergrund aufragt? Die wildeste Variation übrigens: gelbe Jacke. Dem Follower sollen die Bilder einflüstern: Abenteurer! In Wirklichkeit aber brüllen sie: Langeweiler! 

Einen weiteren Beweis für die einfallslose Gleichförmigkeit der so genannten Instagram-Ästhetik möchte Kassier nicht erbringen. Im Gegenteil: "How to Take a Selfie" bildet die Vielfalt digitaler Identitäten ab. Kassier erstellt einen Männerkatalog. Auch wenn es bisweilen so wirken mag, Parodien sind es nicht. Wenn einer ein großes Croissant vor seinen Schritt hält und das eigene Hirn sofort "Phallus" schreit, ist das keine Manipulation von Kassier, der die Rezeption lenken will. Dann hat sich einfach jemand fotografieren lassen, wie er sich ein großes Croissant vor seinen Schritt hält und dabei siegessicher in die Kamera lacht. Die jungen Männer, die Kassier verkörpert, wollen etwas hermachen, wollen beeindrucken. Sie suchen sich dafür Hintergründe und erschaffen Szenerien. Wenn sich einer als Naturjunge inszenieren will, aber gerade keine Natur in der Nähe ist, umgibt er sich eben mit seinen Zimmerpflanzen. Der Geschäftsmann präsentiert sich im Anzug, der Hipster mit Beanie und Bart im Badezimmer, der Yuppi steht auf dem Golfplatz und der Sportler in Badehose am Strand. 

"Man lässt sich mit den Dingen fotografieren, auf deren Besitz man stolz ist, dem Geschäft, dem Fahrrad, später dem Renault 4 CV (...)", schreibt die französische Schriftstellerin Annie Ernaux in "Der Platz" (1983), der Biografie ihres Vaters. Spätestens seit Cindy Shermans "Untitled Film Stills" wissen wir, dass sich Identität und ihre Repräsentation nicht allein aus Pose, Geste und Gesichtsausdruck ergeben, sondern aus der Wahl der Requisiten, Kleidungsstücke und Location, so Kuratorin Eva Respini im New Yorker Katalog zur Ausstellung "Cindy Sherman" (2012). Mit den "Stills" lieferte Sherman ein "enzyklopädisches Verzeichnis weiblicher Rollen" aus verschiedenen Typen der Kinoproduktion, einen "Frauenkatalog", so Respini weiter. Sherman sucht nach Frauen, die künstlich wirken – heute, auf ihrem Instagram-Account vielleicht sogar mehr denn je. Sie überzeichnet und karikiert und kritisiert damit den starken Einsatz von Filtern, Apps und Photoshop in Selfies besonders von jungen Frauen in den sozialen Medien.

Ein weiteres vergleichbares Projekt aus der Geschichte der Kunst ist August Sander mit seinen "Menschen des 20. Jahrhunderts". Sein Ordnungssystem waren einst Berufsstände. Heute derweil gilt: Jeder ist, was er online vorgibt zu sein.

"How to Take a Selfie" ist im Auftrag des Goethe-Institut Baku für die Gruppenausstellung "A Doll’s House" entstanden, die am 12. April 2019 eröffnet. Anika Meier steuert als Ko-Kuratorin die zwei neuen Arbeiten von Andy Kassier und Leah Schrager ("Shades of Pink") bei, die sich mit weiblicher und männlicher Selbstinszenierung in den sozialen Medien befassen.