Offener Brief

Kulturschaffende sorgen sich um Kulturleben in München

Foto: dpa
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Matthias Lilienthal

In einem offenen Brief zum Ende der Intendanz von Matthias Lilienthal an den Münchner Kammerspielen haben Kunst- und Kulturschaffende ihre Sorge um das Kulturleben in München zum Ausdruck gebracht

Der Brief an den Stadtrat der Landeshauptstadt München hat innerhalb von nur drei Tagen mehr als 300 Unterzeichner aus der Kunst- und Kulturbranche gefunden, darunter Kasper König, Okwui Enwezor, Wolfgang Tillmans, Yilmaz Dziewior, Hortensia Völckers, Diedrich Diederichsen, Joanna Warsza und Thomas Meinecke.

Sie fürchten, dass der ursprünglich mutigen Entscheidung der Kulturpolitik für eine Weiterentwicklung des Stadttheaters in München jetzt ein neuer Rückschritt folgen könnte. Im März hatte Matthias Lilienthal seinen Rückzug aus der Kammerspiel-Intendanz zum Ablauf seines Fünfjahresvertrags 2020 angekündigt, nicht zuletzt weil die CSU-Fraktion sich zuvor im Münchner Stadtrat gegen eine Verlängerung ausgesprochen hatte.

Lilienthal steht für ein junges, experimentelles und performatives Theater. Für seinen Versuch, das renommierte Stadttheater in München zu reformieren, hatte er vor allem von überregionalen Kritikern viel Zuspruch bekommen. In Münchner blieb die Unterstützung jedoch oft aus, seit Lilienthals Amtsantritt haben die Kammerspiele auch mit sinkenden Abo- und Besucherzahlen zu kämpfen.

Den offenen Brief in voller Länge lesen Sie hier:

"Offener Brief an den Münchner Stadtrat

Wie das Ensemble und die mit den Kammerspielen assoziierten Künstler*innen sind auch wir enttäuscht darüber, dass die Intendanz von Matthias Lilienthal 2020 beendet sein soll. Deswegen möchten wir uns zu Wort melden: als Theater-/Festivalleiter*innen, Kurator*innen, Lehrende und Wissenschaftler*innen, die wir die Münchner Kammerspiele als Zuschauer*innen sowie als (Kooperations-)Partner*innen und Kolleg*innen erleben.

Die Berufung von Matthias Lilienthal nach München war ein starkes Signal: Mehr denn je muss sich das Theater Fragen nach seiner Relevanz in einer sich rasant verändernden Welt stellen. Die Kammerspiele reagieren darauf mit einer Politik der ästhetischen und gesellschaftlichen Öffnung. Die Debatten, die dies verursachte, waren einerseits erwartbar, andererseits grundsätzlich nicht falsch: Ein Theater, über das gestritten wird, hat offensichtlich einen Nerv getroffen. Aber nun wurde dieser künstlerische Aufbruch, der wie jeder Wandel Zeit gebraucht hätte, nach gerade einmal 2,5 Jahren durch die Entscheidung der CSU-Fraktion, sich gegen eine Vertragsverlängerung auszusprechen, in Frage gestellt. Warum?

Der Verweis auf die angeblich mangelnde künstlerische Qualität der Neuproduktionen erscheint beispielsweise angesichts von gleich zwei Einladungen zum diesjährigen Theatertreffen nicht überzeugend. Zudem zeigen die zahlreichen, weltweiten Gastspiele des Ensembles sowie die Koproduktionen, dass die Münchner Kammerspiele auch international bestens positioniert sind. Der häufig formulierte Vorwurf, Matthias Lilienthal habe vorrangig junge Leute ins Theater geholt, erscheint in einer Zeit, in der das Theaterpublikum zunehmend überaltert und sich Kulturinstitute in ganz Europa um die junge Generation bemühen, schwer nachvollziehbar.

München hat mit dem Residenz- und dem Volkstheater zwei Institutionen, die sich schwerpunktmäßig der Vielfalt des Schauspiels widmen. Es ist uns unverständlich, wieso es nicht möglich sein soll, dass es mit den Kammerspielen auch ein Theater in München gibt, in dem neben 'Klassikern' und zeitgenössischen Dramen weitere performative Formate sowie interdisziplinäre oder internationale Arbeiten gezeigt werden; ein Theater, das mit der freien Szene kooperiert, neue Produktionsweisen ausprobiert, bildende Kunst, Konzerte, Tanz, Diskurs und Community Arbeit wie das Welcome Café für Alt- und Neumünchner*innen zum integralen Bestandteil des Programms macht. Schließlich: Ein Theater als offener Ort, der Impulse aus der Zivilgesellschaft aufnimmt und in sie hineinwirkt.

Die Aussage einzelner Politiker, die Zeit der Experimente sei vorbei, halten wir für äußerst problematisch. Kunst ist ohne Veränderung, ohne Innovation tot. Gerade die Münchner Kammerspiele, die sich in den 1920er Jahren als führendes Avantgardetheater Deutschlands etablierten, waren schon immer dem künstlerischen Aufbruch verbunden. Wir sorgen uns um das Kulturleben in München und fürchten, dass der ursprünglich couragierten Entscheidung der Kulturpolitik für eine Weiterentwicklung des Stadttheaters, das als vernetzte Struktur in die Stadt hineinwirkt und sich intensiv mit einer sich verändernden Realität auseinandersetzt, jetzt eine neue Rückwärtsgewandtheit folgen könnte. Dabei geht es um mehr als um die Kulturstadt München, die an Attraktivität verlieren würde. Kulturinstitutionen, die sich künstlerisch und gesellschaftlich den Herausforderungen der Zeit stellen, benötigen hier wie überall Kontinuität und politischen Rückhalt.Die Münchner Kammerspiele sind lokal verwurzelt und weltoffen gedacht. Was mehr kann und soll ein Stadttheater im 21. Jahrhundert leisten?

Wir appellieren an alle Beteiligten, die Entscheidung zur Beendigung dieses wagemutigen Aufbruchs der Kammerspiele zu überdenken!

'Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.'
(Gustav Mahler, nach Jean Jaurès)"