Nachruf auf Manfred Schneckenburger

Kunst als therapeutische Alternative

 Manfred Schneckenburger, zweifache Leiter der Kunstausstellung Documenta, 2015 bei der Auszeichnung mit dem Hessischen Kulturpreis
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Manfred Schneckenburger, zweifacher Leiter der Kunstausstellung Documenta, 2015 bei der Auszeichnung mit dem Hessischen Kulturpreis

Seine zwei Documenta-Ausstellungen in Kassel waren für viele künstlerische Erweckungserlebnisse. Nun ist der Kurator Manfred Schneckenburger im Alter von 81 Jahren gestorben 

Wer könnte seinen ersten Theaterabend, das erste Sinfoniekonzert, die erste Documenta vergessen? Die 1987 von Manfred Schneckenburger geleitete Documenta 8 war die erste des Autors. Dass Wenzel Beuys damals den letzten Baum pflanzte, womit er die auf der Documenta 7 begonnene "7000 Eichen"-Aktion seines Vaters vollendete, bekam der Kassel-Neuling damals nicht mit. Aber die zahlreiche Videokunst fiel ihm und auch allgemein besonders auf: Schneckenburgers zweite Documenta nach der D6 1977 fuhr die Malerei zurück und gab Videoinstallationen breiten Raum.

Besonders Nam June Paiks Monitorwand zu Ehren von Joseph Beuys, der im Januar 1986 gestorben war, hinterließ einen tiefen Eindruck. Ebenso die "Tränen aus Stahl", eine Videoinstallation von Marie-Jo Lafontaine, die Maria Callas zum Workout von Bodybuildern singen ließ.

Hans Haacke präsentierte einen Mercedes-Stern als Symbol moralischer Blindheit von Industrie- und Bankenwesen gegenüber dem Apartheid-Südafrika, Ange Leccia einen Mercedes 300 CE in der Orangerie, wo sich viele fragten, ob sie nicht doch in einer Design-Schau gelandet waren. Weitere Schlaglichter: Lauter Guillotinen in der Karlsaue (Ian Hamilton Finlay), Robert Longo wuchtete einen riesigen schwertschwingenden Samurai ins Fridericianum, der aus Spielzeugsoldaten zusammengesetzt war. Gewalt als vorherrschendes Documenta-Thema brachte auch eine erste (persönliche) Begegnung mit Leon Golubs eindringlichen Vietnam-Bildern.

Die Spuren der Documenta 6 sind noch in Kassel zu sehen

Manfred Schneckenburger ist der bisher einzige Documenta-Leiter, der die Großausstellung zweimal geleitet hat. Seine D6 war die erste, die eine Auseinandersetzung mit ostdeutscher Malerei (Heisig, Mattheuer, Sitte, Tübke) im Westen ermöglichte, Beuys war mit seiner legendären "Honigpumpe" dabei und Haus-Rucker-Co mit der begehbaren Stahlskulptur "Rahmenbau", die wie Anatol Herzfelds "Traumschiff Tante Olga" heute noch in Kassel zu sehen ist.

Worum es Schneckenburger 1977 ging, erklärte er damals in einem „Kunstforum“-Gespräch, nämlich um "eine Orientierung zur Definition dieser Kunst der 70er Jahre", dabei hob er die Funktion von "Kunst am Gegenpol zum Medienkonsum, als fast schon therapeutische Alternative" hervor. Daraus sprach auch eine kritische Haltung zur Pop-Art, die Arnold Bodes dritte und letzte Documenta 1968 dominiert hatte. Und eine inhaltliche Orientierung an Harald Szeemanns Documenta 5 von 1972, die mit ihrer politisch-kritischen (Neu-)Ausrichtung immer noch als die bedeutendste gilt.

Wiederentdeckung der Projektion in der Kunst

Manfred Schneckenburger, 1938 in Stuttgart geboren, studierter Germanist, Historiker und Ethnologe, absolvierte nach einer kurzen Phase als Gymnasiallehrer ein Volontariat an der Staatsgalerie Stuttgart und schrieb zeitgleich Kunst- und Theaterkritiken. Von 1969 bis 1972 war er Ausstellungsreferent beim Olympia-Komitee in München, ab 1970 an der Olympiaausstellung "Weltkulturen und moderne Kunst" (München 1972) beteiligt. Von 1973 bis 1974 war Schneckenburger Direktor der 2003 abgerissenen Josef-Haubrich-Kunsthalle in Köln. Er lehrte in Bochum, an der Gesamthochschule Kassel und an der Kunstakademie Münster, deren Rektor Schneckenburger bis zur Pensionierung im Jahr 2004 war.

Er gilt als Wiederentdecker des Experimentierfelds Projektion: Von 2007 an leitete er die Projektionsbiennale "Lichtsicht", die nach dem Ausstieg des Hauptsponsors zeitweilig auf der Kippe war, nun aber im Oktober 2020 im niedersächsischen Bad Rothenfelde wieder stattfinden soll. Schneckenburger wird die "Lichtsicht 7" nicht mehr erleben, am vergangenen Montag, einen Tag nach seinem 81. Geburtstag, starb der bedeutende Kunsthistoriker und Kurator im Uni-Herzzentrum seiner Wahlheimat Köln.