Film über Marcel Marceau

Jenseits der Worte

Das Filmporträt "Die Kunst der Stille" über den Pantomimen Marcel Marceau lädt zur Denkmalbesichtigung ein. Allerdings vergisst er dabei zu fragen, was uns der einst in Ost und West umjubelte Künstler heute noch zu sagen hat

Wie kommt man im Zeitalter der metakommunikativen Geschwätzigkeit, von Twitter und Talk-Apps dazu, einen Film über einen verstorbenen Pantomimen zu machen? Der Vater des Schweizer Regisseurs Maurizius Staerkle Drux ist gehörlos und Pantomime, Marcel Marceau eines seiner großen Idole. Das muss kein Handicap sein, kann aber auch dazu führen, dass das Licht, in das das Objekt der Bewunderung gestellt wird, allzu heilbringend leuchtet. Glaubt man den Töchtern Camille und Aurelia, Marceaus dritter Frau Anne Sicco, seinem Enkel Louis oder seinem Schüler Rob Mermin, dann lebte Marceau, dessen jüdische Eltern aus der Ukraine und Polen nach Straßburg ausgewandert waren, nach jedem Auftritt in seinen Figuren fort – und dazu gehörten auch Vögel, Steine und Felsen.

Eine selbstschützende Reaktion auf den Antisemitismus und die Verfolgung während der deutschen Besatzung, die er als Kind erlebt hat? Auf die Verhaftung und Deportation seines Vaters, eines koscheren Metzgers, der in Auschwitz starb? Das suggeriert zumindest Drux, indem er mitunter den Fokus auf Marceaus Cousin Georges Loinger verschiebt, der 2018 mit über 100 Jahren gestorben ist und sich in der französischen Resistance engagierte. Die Cousins retteten gemeinsam mehr als 300 jüdische Kinder in die Schweiz. Marceau trat auch vor versteckten Kindern auf, imitierte Charlie Chaplin und riet ihnen zu schweigen, um nicht aufzufallen. Die Leben rettende Stille ließ ihn von da ab nicht mehr los.

Er trat vor US-Soldaten auf und schloss sich der Truppe von Jean-Louis Barrault an. 1947 erweckte er die Kunstfigur Bip zum Leben, einen Ringelpulli tragenden, weiß geschminkten, an den minimalsten Anforderungen des Lebens scheiternden Clown. "Stille ist die innere Spannung der Seele, der Widerhall der Gedanken", sagt er einmal in einer TV-Aufnahme, und gestikuliert umso lauter, das Schweigen fällt ihm nicht wirklich leicht, die Gesichtsmuskeln veranstalten geradezu ein Konzert, beanspruchen die volle Aufmerksamkeit des Gegenübers.

Kritische Töne sucht man vergeblich

Seine eigenen Kinder hatten Angst vor seiner Maske und litten unter der ihre eigene Eigenständigkeit erdrückenden Berühmtheit. Marceau betrieb eine Schule, war immer wieder monatelang im Ausland auf Tour, auch in der BRD und DDR, selten mit der Familie, und wenn doch, dann standen die Töchter wie vergessene Statisten in den Kulissen. Haben sich deshalb die beiden ersten Frauen sowie die Söhne nicht an der Produktion beteiligt? Tiefergehende kritische Töne sucht man leider vergeblich. Und auch über den privaten Marceau erfährt man wenig. Umso mehr in Archivaufnahmen, auch vom befreiten Paris, über seine Arbeit und die missionarische Besessenheit, mit der er die humanistisch-inklusive Botschaft betrieb.

Über sich selbst oder mögliche Traumata sprach er ungern. Dafür, ohne mit der Wimper zu zucken, über den Tod, den er für eine "Metamorphose" hielt. Wiederholt bemüht Drux poetische Bilder des fließenden Wassers, um das Verstreichen der Zeit einzufangen, lässt seinen Vater und den Enkel und Tänzer Louis als Bip auf einer Bühne auftreten. Das sind etwas plumpe Versuche, Marceau in die Jetztzeit zu verhelfen. Dabei fürchtete er genau dieses, dass er nicht mehr in die Zukunft passen würde, mochte auch ein Michael Jackson seinen "Moon Walk" bei ihm abschauen.

Einen Gegenbeweis erbringt der Film trotz überquellenden Materials nicht. Als Marceau 2007 mit 84 Jahren starb, nahm er nicht nur die ganze Gattung der Pantomime, inklusive seiner antiquierten Figuren, mit auf die letzte Reise, sondern auch das von Katastrophen gezeichnete Säkulum gleich mit. Einst sagte er in einem Interview: "Heute hat meine Kunst eine Ebene, die man Erinnerung nennen könnte, heute erinnert sich Bip an den Krieg, denn der Krieg sitzt tief." Mit einem neuen Bip, weniger muffig, weniger romantisch, ist heute angesichts neuer Kriege nicht zu rechnen, nicht, weil Zylinder mit roten Blumen nur noch auf Querdenker-Demos zu verorten sind, sondern schlicht, weil der kommunikative Konsens ein anderer geworden ist.