Künstlerin Lene Berg über ihren Vater

"Was, wenn jemand, den du liebst, etwas Unverzeihliches tut?"

Als Lene Berg neun Jahre alt war, tötete ihr Vater seine damalige Ehefrau. Nun setzt sie sich in einer Ausstellung mit ihrem Verhältnis zu ihm auseinander. Ein Gespräch über Briefe ins Gefängnis und Erinnerungen, die gleichzeitig fiktiv und wahr sind

Ein Auto auf einem Parkplatz in einem Pariser Vorort: Neuilly-sur-…. irgendwas. Es ist Nacht, vielleicht scheint der Mond. Im Auto befinden sich zwei Personen, ein Mann und eine Frau. Der Mann schnarcht, wie es sehr betrunkene Männer oft tun. Die Frau schnarcht nicht. Sie ist tot. An diese Szene erinnert sich die Künstlerin Lene Berg in ihrer Ausstellung "Fra Far" (Von Vater), die gerade in Bergen an der norwegischen Westküste zu sehen ist. Der Mann im Auto ist ihr Vater, der Filmemacher Arnljot Berg (1931-1982), die Frau die 27-jährige Lehrerin Evelyne Zammit. 1975 wurde Berg wegen der Tötung seiner damaligen Ehefrau zu fünf Jahren Haft verurteilt, während eines Streits im Auto kam es wohl zu Gewalt. Ein Jahr saß er in Paris im Gefängnis, dann wurde er wegen guter Führung auf Bewährung entlassen und kehrte zurück nach Norwegen. 1982 nahm sich Arnljot Berg das Leben.

Seine Tochter Lene, die zum Zeitpunkt der Tat neun Jahre alt war, beschäftigt sich nun für die prestigeträchtige alljährliche "Festivalausstellung" in der Bergen Kunsthall mit ihrem Vater. Ihr geht es nicht um Aufklärung des Falls, über den seinerzeit viele Gerüchte kursierten. Vielmehr arbeitet sie mit ihren eigenen (unzuverlässigen) Erinnerungen, stellt Szenen als Modelle nach und hat eine Videoarbeit aus den Briefen geschaffen, die zwischen ihr und Arnljot während seiner Zeit im Gefängnis hin und hergingen. Die Kunst nimmt immer wieder die Kinderperspektive ein. "Ist Vater böse?", fragt eine Mädchenstimme die Mutter in einer der Installationen. "Muss ich aufhören, ihn gern zu haben?"

Wir haben mit Lene Berg über das berührende Projekt gesprochen, das noch bis Ende August zu sehen ist.


Lene Berg, woher kam der Impuls, sich künstlerisch mit dem Fall Ihres Vaters auseinanderzusetzen?

Ich habe zum ersten Mal mit persönlichen Erfahrungen gearbeitet, als mein Partner in New York ohne Grund von der Polizei festgehalten wurde. Der Film "False Belief" lief 2019 auf der Berlinale. Darin geht es vor allem um Rassismus in den USA, aber die drei Monate, die er im Gefängnis war, haben bei mir viele Erinnerungen an meinen Vater und seine Zeit in Haft geweckt. Dann wurde ich zur Festivalausstellung in Bergen eingeladen, was für norwegische Künstlerinnen und Künstler eine große Sache ist. Man bekommt sehr viel Zeit und Platz, um etwas Neues zu entwickeln. Als 2020 der Corona-Lockdown kam, hatte ich viel Muße, in meinen Erinnerungen und in Schränken und Schubladen herumzukramen. Ich war mir nicht sicher, ob etwas daraus wird.

Aber dann wurde etwas daraus?

Ich wusste selbst nicht genau, wie ich auf diese Erinnerungen reagieren würde, das war lange eine verschlossene Tür. Ich habe auch gezweifelt, ob die Geschichte für andere Menschen außer mir selbst interessant genug sein würde. Aber dann hatte ich auf einmal eine Menge Material, zum Beispiel die Filmrollen von Arbeiten meines Vaters oder die Zeichnungen, die wir ihm ins Gefängnis geschickt haben. Und dann hatte ich viele Ideen, was ich damit machen und wie ich es mit meinen eigenen Erinnerungen verknüpfen wollte.

Ihre Geschwister sind teilweise selbst in kreativen Berufen tätig. War Ihnen wichtig, was sie von dem Projekt halten?

Das war eine meiner größten Bedenken, und ich war sehr nervös, als sie die Ausstellung zum ersten Mal gesehen haben. Es war mir wichtig, sie einzubeziehen. Mein Bruder, der Möbeldesigner ist, liest zum Beispiel in einem Video die Briefe unseres Vaters aus dem Gefängnis vor und hat mich viele seiner Zeichnungen benutzen lassen. Die Unterstützung bedeutet mir viel.

Wann wird eine persönliche Geschichte interessant für ein breiteres Publikum?

Das ist eine Frage, die nicht ganz leicht zu beantworten ist. Ich glaube, es braucht eine Fragestellung, die über das Persönliche hinausweist.

Welche ist das in diesem Fall?

Einmal geht es um die Erinnerungen und wie sie selbst Geschichten sind. Ich kann von manchen Dingen gar keine Erinnerungen haben, und doch habe ich sie, und sie fühlen sich real an. Und andererseits spielt natürlich die Frage eine Rolle, wie man damit umgeht, wenn jemand, der einem sehr nahe steht, etwas vollkommen Unverzeihliches und Unbegreifliches tut. In einer der Soundarbeiten taucht immer wieder die Frage auf, warum Vater Evelyne getötet hat. Ich habe es einfach nicht zusammenbekommen. Jeder Mensch trägt Widersprüche und Mysterien in sich, aber bei meinem Vater sind diese Gegensätze fast ins Unermessliche gesteigert. In einer Zeit, die auf einfache Erklärungen und klare Antworten versessen ist, ist das schwer auszuhalten. Der Fall meines Vaters steht dafür, dass es diese Antworten nicht immer gibt. Das ist wichtig, auch wenn es schmerzhaft ist.

Viele Elemente der Ausstellungen schaffen eine Distanz zum Geschehen. Die Tatnacht wird mit einem Modellauto und einem ausgeschnittenen Foto des Mondes nachgestellt, Schauspieler lesen ein Manuskript von Ihnen vor. Ist diese Art des Erzählens weniger schmerzhaft?

Sie verweist vor allem darauf, dass Erinnerungen immer Fakt und Fiktion gleichzeitig sind. Wenn man sie lange hat, werden sie Wirklichkeit. Mir war es wichtig, einige Szenen zu formulieren, bevor ich mit der Recherche angefangen habe. Es geht nicht darum, was genau passiert ist, sondern wie wir unsere eigenen Versionen davon geschaffen haben. Es gibt keine Zentralperspektive. Ich will, dass die Leute sehen, dass es konstruiert ist, dass ich es bin, die spricht. Außerdem interessiere ich mich auch für Arten des Porträts. Eigentlich ist die Ausstellung ein Versuch, auf viele verschiedene Arten etwas über einen Menschen zu sagen. Deshalb habe ich auch Weggefährten meines Vaters befragt. Sie hören völlig gegensätzliche Beschreibungen über ihn, je nachdem, wen sie fragen. Auch das zeichnet ihn aus.

Was kann ein solcher künstlerischer Ansatz, was ein dokumentarisches, investigatives Projekt nicht kann?

Kunst kann genauso wahr sein wie vermeintlich dokumentarische Werke. Sie ist verkörpertes Erleben und kommt einer Sache vielleicht manchmal sogar näher als das "Objektive". Ich glaube, dass "Dokumentation" eigentlich ein falsches Genre ist. Es hat nichts mit Wahrheit zu tun, es ist nur eine andere Form des Erzählens, die bestimmten Ansprüchen folgt und auf eine bestimmte Art mit Materialien umgeht. Es ist eine andere Art von Fiktion.

Sie haben auch Zeitungsausschnitte aus den 70er-Jahren in die Ausstellung integriert. Wie sind Sie damals mit der öffentlichen Aufmerksamkeit umgegangen?

In der Ausstellung werden die Medienausschnitte der Frage eines kleinen Mädchens gegenübergestellt, warum Evelyn sterben musste. Das sind zwei ganz unterschiedliche Sichtweisen, die in Konflikt treten. In den 70er-Jahren konnte man ein Kind noch vor den Nachrichten schützen, das wäre heute wohl unmöglich. Ich habe die Artikel damals nicht gelesen, aber meine Mutter hat alles aufgehoben und uns gesagt, dass wir es haben können, wenn wir wollen. Man hat natürlich Gerüchte aus seinem Umfeld gehört, und ich hatte ein Gefühl dafür, dass schreckliche Dinge berichtet wurden. Das, was in den Zeitungen stand, wurde geglaubt. Es steht für das, was die Leute dachten, was passiert ist, obwohl viel erfunden wurde. Evelyn wurde da zum Beispiel als "Starlet" bezeichnet, weil das glamouröser klang. Das war sie überhaupt nicht, sie war Lehrerin.

Die Briefe zwischen Ihnen und Ihrem Vater im Gefängnis haben etwas Spielerisches, Leichtes, auch sehr Zärtliches. Manchmal verpackt er das Leben in Haft wie eine Reisegeschichte aus einem fremden Land. Wann wurde Ihnen die dunklere Ebene dieser Briefe klar?

Ich wusste schon als Kind viel mehr über meinen Vater, als ich in meinen Briefen schreibe. Ich wusste um seine dunklen Stunden, er hatte schon vor Evelyns Tod versucht, sich das Leben zu nehmen. 1982 hat er sich schließlich umgebracht. Vor seiner Zeit im Gefängnis habe ich nicht viele Briefe geschrieben, ich lerne es also während seiner Monate in Haft. Meine Schrift und meine Sprache verändern sich, die Briefe sind also auch Zeitmesser. Mein Vater war sehr bedacht darauf, dass wir nicht merken sollen, dass er Schweres durchmacht und hat versucht, etwas über sein Leben im Gefängnis zu erzählen, ohne, dass er sagt, dass es grausam ist. Er hat uns oft aufgefordert, lieb zueinander zu sein und unser Leben zu leben. Es war wohl damals unsere Art, einfach Kontakt zu halten und so gut wie möglich Nähe herzustellen. Ich erinnere mich an diese Nähe. Aber es ist mir auch immer schwergefallen, ihm zu schreiben.  

Fällt es Ihnen heute schwer, zwischen der öffentlichen Person und ihrer eigenen Erinnerung an Ihren Vater zu unterscheiden?

Ich hatte zuerst etwas Angst, dass es in der Ausstellung zu viel um den Privatmann geht. Und das stimmt auch, aber den kenne ich am besten. Es wäre unnatürlich für mich, über ihn als professionellen Filmemacher oder einen bekannten Norweger zu sprechen, der jemanden umgebracht hat. Für mich ist er zuerst einmal mein Vater. Aber ich habe einige Ideen, wie ich mich mit seinen Filmen auseinandersetzen könnte. Darin sieht man auch viel Zeitgeschichte und das Frauenbild seiner Ära. Mein Vater ist während des Zweiten Weltkrieges aufgewachsen und hat zu einer Zeit Filme gemacht, als die Branche eine reine Männerwelt war. Das wäre spannend zu untersuchen.

Wenn ein Mann eine Frau umbringt, ist es oft der Täter, der mehr Aufmerksamkeit bekommt als das Opfer. Hatten Sie Bedenken, dieses Muster zu reproduzieren?

Mir war es auf jeden Fall wichtig, auch Evelyn in der Ausstellung sichtbar zu machen. Wir kannten sie ja, und ich habe auch um sie getrauert. Es war schwer, denn eine Person, die ich gern hatte, war fort, und es war die Schuld meines Vaters, den ich auch liebte. Das kann man fast nicht aushalten. Evelyn hat ihren eigenen kleinen Raum in der Ausstellung, darüber bin ich sehr froh. Sonst war sie oft nur die Frau, die gestorben ist.