Salvador Dalí und Joan Miró sind auch im Salon, als André Breton in Paris eine Lobrede von der Frau als Muse hält. Leonora schneidet dem Dichter und Begründer des Surrealismus das Wort ab. Es sei absurd, Frauen zu vergöttern, die einem gleichzeitig das Bettzeug waschen und Essen kochen. Die Szene spielt in einem großbürgerlichen Pariser Appartement im Jahr 1938. Es war nicht die Zeit, in der Männer Frauen besondere Leistungen als Künstlerinnen oder Schriftstellerinnen zutrauten.
Leonora Carrington war aber nicht nur eine – von heute aus betrachtet – zentrale Malerin des Surrealismus, sie schrieb auch Gedichte, Essays, Erzählungen und Theaterstücke, in denen das 1917 in England geborene und 2011 in Mexiko-Stadt verstorbene Multitalent Fantastik mit Humor verband. Sie war eben nicht nur "Muse des Surrealismus" oder die "Muse von Max Ernst", sondern eine unabhängige und eigenwillige Künstlerin. Womit die leidenschaftliche Liebes- und Künstlerbeziehung zwischen Carrington und Ernst in ihrer Bedeutung (für beide) nicht unterschätzt werden sollte.
Das von Thor Klein und Lena Vurmer verfasste und inszenierte Künstlerinnendrama "Leonora im Morgenlicht" beschäftigt sich mit diesem Paar vor allem im ersten Drittel. In kurzen, aber prägnanten Auftritten ist Alexander Scheer als Max Ernst zu sehen. Zum Ereignis wird "Leonora" aber durch das nuancierte Spiel der Titeldarstellerin Olivia Vinall, der man die energische und streitbare Künstlerin ebenso abnimmt wie die gebrochenen Momente: Carrington war nach dem Zweiten Weltkrieg schwer traumatisiert und wurde zeitweilig in einer psychiatrischen Klinik behandelt.
Innere Dämonen
Der Film basiert auf dem Roman "Frau des Windes" der mexikanischen Schriftstellerin Elena Poniatowska und erzählt in von der Chronologie abweichenden Episoden aus dem Leben der Künstlerin. Es ist nicht verkehrt, sich vor dem Kinobesuch in die Biografie Carringtons einzulesen, denn im Film spielen atmosphärische und introspektive Qualitäten eine wichtigere Rolle als die pseudo-kohärente Beschreibung eines Lebenswegs. Anders als herkömmliche Biopics leuchtet "Leonora" die Hauptfigur nicht grell und übertrieben psychologisierend aus. Der Film lässt ihr das Geheimnisvolle.
Konsequenterweise beginnt und endet der Film im Dschungel. Etwa 1942 reist Carrington, die gerade aus Europa emigriert ist, nach Xilitla, einem der "Pueblos Mágicos" (magischen Dörfer) Mexikos. Sie besucht den verwunschenen surrealistischen Skulpturengarten "Las Pozas" und freundet sich mit dem Schöpfer dieser Anlage, dem britischen Mäzen Edward James (Ryan Gage) an. Den von James entworfenen, aus dem Dschungel ragenden "Bambuspalast", dessen Wendeltreppe Leonora besteigt, gibt es wirklich, obwohl er im Film wie gemalt aussieht.
Die Handlung springt einige Jahre zurück, nach Paris. Die Geliebte des 26 Jahre älteren Max Ernst wird in den Kreis der Surrealisten eingeführt. Das Paar lebt und liebt später abgeschieden in Südfrankreich, bis Ernst nach Kriegsausbruch interniert wird. Leonora bricht zusammen und findet sich in Spanien in einer Nervenheilanstalt wieder. Über Lissabon kann sie schließlich nach Mexiko emigrieren. Dort gründet sie mit dem ungarischen Fotografen Emérico Weisz (Gabriel Raab) eine Familie, doch ihre inneren Dämonen haben Leonora weiter im Griff.
Die Hyäne als Symboltier
Enttäuschend ist die Tatsache, dass im Film visuelle Entsprechungen zu Leonora Carringtons Bildwelten weitgehend fehlen. Bis auf wenige Zeichnungen, die kurz eingeblendet werden, haben die Filmemacher offenbar nicht über Nutzungsrechte für die surrealistischen Werke verfügt.
Anders als bei den filmischen Biografien "Pollock" (2000), "Frida" (Kahlo, 2002) oder "Final Portrait" (2017, um Alberto Giacometti), die stilistische und ikonografische Besonderheiten stark einbeziehen, sieht man "Leonora im Morgenlicht" das beschränkte Budget leider an. Immerhin die Hyäne kommt hier vor, die in Carringtons Bildern eine wichtige Rolle einnimmt. Ihr zentrales Symboltier, das ihre unersättliche Neugier verkörperte, führt sie im Film schließlich zu Ruinen im mexikanischen Dschungel: eine antike Stadt, die einst von Priesterinnen regiert wurde.
"Leonora im Morgenlicht" ist ein schöner Film über weibliches Empowerment, die fehlende Verbindung zum Werk der realen Carrington muss man ihm nachsehen. Die meisten im Publikum wird der Kinobesuch aber zu einer weiteren Beschäftigung mit dieser lange unterschätzten Künstlerin animieren.