Anika Meier über Social-Media-Burnout

Lina mag nicht mehr

Foto: Lina Scheynius
Foto: Lina Scheynius

Lina Scheynius mag nicht mehr. Sie war süchtig. Süchtig nach Zahlen. Nach Zusprache, die sich in Likes und Followern messen ließ. Ständig und überall. Bis ihr alles zu viel wurde. Die vielen Menschen, die ihr virtuell folgten. Die Sucht nach Momenten, die sich teilen ließen. Die Fragen, wie sie wohl zu noch mehr Followern kommen könnte. Im April dann löschte sie Instagram von ihrem Telefon. Am Montag, am späten Abend, 17 Wochen später, meldete sie sich per Instagram wieder bei ihren Followern. Weil sie seit einigen Monaten nichts mehr gepostet hat, wollte sie eine Erklärung abgeben.

Wer die Arbeit der schwedischen Fotografin Lina Scheynius kennt, der ist auch mit ihrem Werdegang vertraut. Model wollte sie eigentlich werden. Aber das war nichts für sie. Zu langweilig. Und sie war immer zu hungrig. Also fing sie aus Langeweile an sich selbst zu fotografieren, und ihr Umfeld: Familie, Freunde, Mitbewohner, Liebhaber. Ihre Fotos veröffentlicht sie seit 2006 über Flickr und über eine eigene Website, später kamen Facebook, Tumblr und Instagram hinzu.

Eines Morgens fand sie in ihrem E-Mail Postfach eine Anfrage eines Fotografie-Agenten, die sie nach einigem Zögern – denn Modefotografin wollte sie ja gar nicht werden – doch beantwortete. Und schon kurz darauf sollte sie die Schauspielerin Charlotte Rampling fotografieren, die für Juergen Teller einmal nackt im Louvre vor der Mona Lisa posierte. Von ihm übernahm sie später auch die Kolumne im "ZEITmagazin". Aus "Unterwegs mit Juergen Teller" wurde das "Tagebuch einer jungen Frau". Im April 2011 veröffentlichte sie ein Foto-Portfolio in Monopol.

Im "ZEITmagazin" erzählte sie unter der Überschrift "Fotografieren", dass sie sich ins Fotografieren verliebt habe, weil es wie ein sehr guter Freund sei, den man gerne in seinem Leben habe und mit dem man gute und schlechte Erinnerungen teilen könne.

Ihr zweiter guter Freund wurde das Internet mit seinen Fotoplattformen und sozialen Netzwerken. Ihm gab sie vertrauensvoll ihre Fotografien in die Hände, damit sie mit mehr Menschen ihre Erinnerungen teilen konnte. Das wurde ihr jetzt nach neun Jahren und besonders mit Instagram schließlich zu viel, wie sie in ihrer Erklärung schreibt. Diagnose Social-Media-Burnout oder Web-2.0-Depression? "So instant", sei dieses Instagram, sagt sie. Und so voller Menschen, das machte sie abhängig. Die Liebe zum Fotografieren sei geblieben, Fotos mache sie immer noch und vielleicht werde sie irgendwann wieder mehr online präsent sein.

Warum lässt sie sich auf das Zahlenspiel auf Instagram überhaupt ein, möchte man sie fragen. Und schütteln. Lina Scheynius hat 25.300 Follower. Das sind viele. Eigentlich. Nur nicht für jemanden wie sie, der viel Zeit in der App verbringt, sich umsieht und feststellen muss, dass sie nur einer von vielen, sogar von sehr vielen Accounts ist, die sich in dieser Größenordnung bewegen. Noch dazu macht Instagram den direkten Vergleich mit anderen Fotografen und Künstlern möglich. Da ist Miranda July mit 20.000 Followern, da ist der Magnum-Fotograf Alec Soth mit knapp 70.000 Followern und da ist Ai Weiwei, der lange schon der Vorzeige-Künstler auf Instagram ist, mit fast 130.000 Followern. Was würde sich für sie als Fotografin in ihrem Berufsalltag ändern, möchte man sie als nächstes fragen, wenn sie 80.000 Follower hätte?

Die App habe sie im April gelöscht, um wieder mehr Zeit in der realen Welt verbringen zu können, schreibt sie. Vielleicht ist ihr dort aufgefallen, dass in Galerien und Ausstellungen nicht ein einziger Künstler steht, ängstlich in die Gesichter der Besucher blickt und auf Kommentare zu den Werken wartet. Und dass Künstler nicht Tag für Tag am Eingang ihrer Ausstellung stehen, um fiebrig die Besucher zu zählen. Da blieb ihr nur, die virtuelle Galerie zu verlassen, denn Instagram ist nicht einmal montags geschlossen.