"Bereicherung. Eine Kritik der Ware"

Luc Boltanski und Arnaud Esquerre über die Ausbeutung der Reichsten

Es reicht nicht mehr, einfach nur ein Produkt zu verkaufen. Luxusgüter brauchen auch Geschichten – so die These der französischen Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre. Das Vorbild dafür liefert, wie könnte es anders sein, die Kunst

Herr Boltanski, Herr Esquerre, in Ihrem Buch "Bereicherung" plädieren Sie für eine alternative Form der Wertschöpfung: die Anreicherung von im Prinzip banalen Dingen mit Geschichten und Geschichte. Was ist anders an dieser Ökonomie? 
Die Industrie stellt Dinge her, deren Preis neu am höchsten ist und dann abnimmt. Die Ökonomie der Bereicherung vermarktet bereits existierende Dinge neu. Dafür ist es notwendig, sie zu "highlighten", und zwar mithilfe von Storys. Nur durch diese Geschichten, die sich zum Beispiel auf die Tradition des Herkunftsorts eines vorhandenen Objekts oder alten Bauwerks beziehen oder auf die Vergangenheit einer Marke, steigt der Preis der Dinge, anstatt zu sinken, wie es bei den Objekten der Standardform der Fall ist.

Sie setzen verschiedene Geschäftszweige wie Luxusindustrie, Tourismus und Kunstproduktion zueinander in Beziehung. Wozu benötigen diese unterschiedlichen Branchen einander?
Luxusindustrie und Tourismus werden immer getrennt von der künstlerischen Produktion betrachtet, weil sie die Kunst zu korrumpieren scheinen. Kunstwerke sollen immer den Anschein haben, dass sie dafür geschaffen werden, in ein Museum zu gehen, wo sie für die Ewigkeit erhalten bleiben. Künstler selbst präsentieren sich kritisch und als außerhalb des Kapitalismus. Dabei sind Kunstproduktion, Luxusindustrie und Tourismus in der Anreicherungsökonomie zutiefst miteinander verwoben. Tourismus ist ein wichtiger Wirtschaftszweig in Europa, und Touristen kaufen Luxusgüter, wenn sie Referenzen zu Kultur und Kunst aufweisen.Dass Objekte mehr wert sein können, als ihre Beschaffenheit es rechtfertigt, ist in der Kunst ganz normal.

Wie unterscheiden Sie Standardform und die von Ihnen genannte Sammlerform?
Es wird oft angenommen, dass der Kapitalismus die bildende Kunst bedroht, indem er sie vereinheitlicht. Dabei ist, im Gegenteil, der Kapitalismus auf Diversität angewiesen, um Profit zu machen. Kunstwerke konnten bis zum 18. Jahrhundert in Wunderkammern gesammelt werden. Im 19. Jahrhundert, zeitgleich mit Auftreten der Standardform durch die Industrialisierung, entsteht die systematische Sammlung, die sich durch die Summe der Unterschiede auszeichnet. Das ist die Sammlerform. Das systematische Sammeln bezieht sich nicht nur auf Kunstwerke, sondern zum Beispiel auch auf Briefmarken oder Oldtimer.

In dieser neuen Ökonomie ist nicht nur jeder ein Verbraucher, sondern jeder ein Händler. Der passive, verführbare Konsument wird zum Akteur. Welche gesellschaftlichen Folgen sehen Sie darin?
Wir sind ständig in die Welt der Waren eingebettet. Oft mehr, als wir zugeben wollen, hängen unsere Erfahrungen und sogar das, was wir als Realität begreifen, davon ab. Diese Konsumgesellschaft entwickelte sich besonders in den 60er- bis 70er-Jahren: Menschen haben, abhängig von ihren finanziellen Mitteln, Zugang zu den zirkulierenden Waren. Wir möchten jedoch darauf hinweisen, dass in zunehmendem Maße auch jeder ein Händler ist, da die Akteure verhandeln können oder selbst Verkäufer werden. Das ist beispielsweise im Immobilienbereich schon der Fall oder wenn man Vintage- oder Sammelobjekte im Internet verkauft und kauft.

Würden Sie sagen, dass sich dieses Versprechen, teilhaben zu können an etwas außerordentlich Wertvollem, auch als Demokratisierung des Luxussegments bezeichnen ließe? Oder geht der Profit aus all dem dann auch wieder nur an wenige Menschen?
Die Massenwirtschaft hatte sich in erster Linie der Ausbeutung der Armen zugewandt, entweder als Arbeiter oder als Verbraucher. Die Ökonomie der Bereicherung ist dagegen darauf ausgerichtet, die Reichen auszubeuten, die in euro­päischen Ländern wie Deutschland oder Frankreich immer zahlreicher werden. Denn am meisten Gewinn verspricht der Handel mit Luxusgütern, die Bedürfnisse der Reichsten bedienen. Luxusgüter für die Reichsten sind nicht gleich Luxusartikel für andere, die zwar einen gewissen Wohlstand haben, aber nicht zu den Reichsten zählen.

Ist die bildende Kunst ein Vorreiter in der Anreicherungsökonomie? 
Die Wirtschaft der Bereicherung könnte ohne die Welt der Kunst nicht funktionieren. Kunstwerke haben immer eine Zweideutigkeit, weil sie sowohl verkauft und gekauft werden, aber sie werden auch aus dem Markt herausgenommen, wenn sie in die Sammlungen öffentlicher Museen eingehen. Die Auswahl eines Kunstwerks aus der Masse anderer Dinge findet stets unter der Prämisse statt, dass es sich an die Menschen in der Gegenwart richtet, aber auch an ein zukünftiges Publikum. Und viele Dinge, die als Kunstwerke betrachtet werden, wurden in ihrer Vergangenheit als Abfall behandelt.