Lyon-Biennale

Ein Bekenntnis zur Endlichkeit

Die 16. Lyon-Biennale hat das perfekte Setting für die Risse und Brüche der Gegenwart. Man ist dankbar für eine Kunst, die mehr will und kann, als dem nächsten digitalen Trend nachzulaufen

Die Britin Lucy McRae war auf die Lockdowns bestens vorbereitet. 2017 drehte sie die Science-Fiction-Doku "The Institute of Isolation". Darin dachte sie darüber nach, ob Isolation als Tor zur Resilienz genutzt werden könnte. Was macht sie mit dem Körper, etwa auf einer jahrelangen Mission zum Mars? Wie könnte er genetisch, technologisch, emotional vorbereitet werden? Wären wir nach der Prozedur, die eine Probandin in einer Reihe futuristischer Sinneskammern durchläuft, widerstandsfähiger? Und welche Rolle spielen Gebäude bei der Veränderung der menschlichen Biologie? Bei den Besuchern der 16. Lyon-Biennale offenbar eine große.

Das deutsch-libanesische Duo Till Fellrath und Sam Bardaouil, seit Anfang dieses Jahres Leiter des Hamburger Bahnhofs in Berlin, hat für seinen Auftritt zwölf Locations ausfindig gemacht, von denen einige suggestiv auf das Thema "Manifesto of Fragility" einstimmen, darunter eine ­verlassene Fabrik von 30.000 Quadratmetern, das Lugdunum (ehemals Gallo-Römisches Museum) inklusive antiker Theaterruinen, das sich in einem brutalistischen Bau des Architekten Bernard Zehrfuss befindet, oder ein pittoresk vor sich hin bröckelndes Naturkundemuseum aus dem 19. Jahrhundert, dessen einsturzreife Dachkuppel das perfekte Setting für ein "Blade Runner"-Sequel abgeben könnte. Alle drei geizen nicht mit Verweisen auf eine implodierende Zeit.

Das ortsbezogene Pensum mag überambitioniert sein. Aber immer wenn man eine dieser historischen Befindlichkeitskapseln betritt, die von verlorener Prosperität, Selbstüberschätzung und Untergang erzählen, meint man die größer werdenden Risse der Gegenwart zu vernehmen, ein Konzert, in das natürlich auch unzählige Kunstwerke einstimmen, allen voran die meisterliche Filminstallation "An Experiment with Time" des Iren Ailbhe Ní Bhriain.

Jedem das passende Bonbon

Er taucht eine stillgelegte medizinische Einrichtung in Wasser, eine andere Spur führt in ein Museum für Computergeschichte, eine dritte in eine Kathedrale. Die Wissenssysteme verschmelzen in einer Collage miteinander, die die katastrophalen Konstrukte, durch die Menschen versucht haben, die Welt zu kontrollieren, kunstvoll miteinander verwebt.

Nicht alle Werke erreichen diesen Grad an Reflexion. Manche sind zu sehr in surreale Details verliebt. Dass sich aber der Kollaps mit Humor besser ertragen lässt, beweist Puck Verkade in ihrer Videoinstallation "Plague". Die Niederländerin lässt eine Fliege von der ausge­beuteten Erde fantasieren. Sie hat Angst und findet selbst auf einem Berg von Schokolade keine Ruhe mehr, eine luzide Stellungnahme zum Status quo.

Mitunter schielen die Ku­ratoren zu sehr darauf, jedem das passende Bonbon anzubieten, aber für das Bekenntnis zur Endlichkeit und den Auf­ruf zum Widerstand ist man dankbar. Wann, wenn nicht heute, braucht man eine Kunst, die mehr will und kann, als dem nächsten digitalen Trend nachzulaufen?