Mailänder Modewoche

Die Wiederentdeckung der Schönheit

Ugly chic und die Feier des Hässlichen war gestern. Nach der Corona-Pandemie wurde auf der Mailänder Modewoche hemmungslos das Schöne gefeiert 

Ciao! Mit der Modewoche in Mailand ist der fashion month im vollen Gange. Nach frischem Wind aus New York und Rebellion aus London warten in Italien Giganten wie Prada und Gucci und eine große Begeisterung für Schönheit und das lang gepflegte, geliebte Kulturgut Mode. Ein zwischen Industrie und Kreativität balancierendes Konzept habe die Modewoche in Mailand inne, heißt es, jedoch fehle eine internationale Komponente, wie Paris sie etwa biete. Den zweiten Platz erklimmt Milano mit Genuss und sich an kulinarischen Köstlichkeiten erfreuenden Gästen. 61 Modenschauen, 73 Präsentationen und 33 Events wurden in den letzten Tagen in Mailand gezeigt – von glitschigem Latex über Laborkittel bis zu dem kleinsten BH der Welt.

20.000 Kondom-Schachteln eröffneten die Mailänder Modewoche. Der gigantische, durexrote Berg wartete in der Mitte des Laufstegs auf Diesels Herbst-Winter-2023-Kollektion. "Erfolgreiches Leben bedeutet, sex-positiv zu sein, Spaß zu haben, das Leben zu genießen, aber auch respektvoll und sicher zu sein", sagte Diesel Creative Director Glen Martens vor der Show. "Außerdem sind wir eine sehr freche, unkomplizierte Marke."

Martens hatte die für ihre experimentellen Denim-Entwürfe bekannte Brand im Oktober 2020 übernommen, durch seinen, dem Y2K-Zeitgeist entsprechenden Ansatz innerhalb kürzester Zeit aus der Versenkung geholt und an die Körper von etwa Julia Fox transportiert, deren erste Sichtung mit Skandal-Rapper Kanye West in einem Diesel-Outfit geschah.

Denim war auch das Herzstück der am Mittwoch gezeigten Show: Sie begann mit den guten, alten, auf der Hüfte sitzenden Bleichjeans, zeigte bald bis auf eine transparente Faserschicht ausgedünnte Kleider und Röcke, die letzte Jeans-Fetzen als Kleidungsstück zusammenhielt und das Innenfutter mit dem äußeren Denim-Material verwebende, aufgeritzte Mäntel und Jacken. Zerschlissen wirkende Woll-Kleider, skelettierte Jersey-Anzüge und zu Fransen zerschnittene Säume machten Platz für wie mit Farbe eingekleisterte Denim-Ensembles und schwarze Moto-Looks. Die zum Ende hin gezeigten Prints von einem heran gezoomten Gesicht mit einem riesigen, schneeweißen Lächeln in unterschiedlichen Farbkombinationen, erinnerten an lang vergangene Retro-Diesel-Kampagnen.

 Ein Model trägt auf der Mailänder Modewoche eine Kreation aus der Herbst-Winter-Kollektion 2023-24 von Diesel
Foto: dpa
Kreation aus der Herbst-Winter-Kollektion 2023/24 von Diesel
Kreation aus der Herbst-Winter-Kollektion 2023-24 von Diesel


Miuccia Prada, die Pionierin des Ugly-Chics, besann sich für die kommende Saison zurück auf eine immerwährende Schönheit. Angelehnt an die aktuelle Ausstellung "Recycling Beauty" in der Fondazione Prada, die auch als Veranstaltungsort der Modenschau diente, entdeckten Miuccia Prada und Raf Simons die Idee von Schönheit wieder, dachten sie neu, rekonzeptionierten sie. "Die wirkliche Bedeutung von dem, was wir tun, ist, dass wir Wichtigkeit in den Alltag bringen", hieß es in den Shownotes. Und so wurden zweckmäßige Kleidungsstücke und Arbeitskleidung wie etwa ein Laborkittel durch präzise Details, in dem Fall eine kleine Schleppe, zu einem den Körper umschmeichelnden Abendkleid.

Die gezeigten Designs sollten ein Zeichen für die Schönheit des Pflegens, der Liebe und der Realität sein. Weiße, mit abstehen Blumen und Spitzendeckchen besetze Röcke, die an Hochzeitskleid-Elemente erinnerten, wurden mit feinen Wollpullovern gepaart und so für den Alltag einsetzbar. Büro-Uniformen wurden durch neckisch unter den exzeptionell geschneiderten Blazern hervorschauenden, bunten Krägen aus ihrem graue Maus-Status befreit.

Eine poetische, andächtige Aura umgibt die Schauen von Miuccia Prada und wurde am vergangenen Donnerstag besonders spürbar, als zu "I Go To Sleep" von The Pretenders, Models in weißen Daunen-Ensembles den Laufsteg hinab liefen. Traum und Alltagsgegenstand verbindend, folgten die fluffigen Bettdecken-Kokons strahlenden Lederkostümen in Grau und Rot. Auch Miuccia selbst verbeugte sich zum Finale in einem roten Wollpullover und einer Burgunder farbenen Hose – für viele ein Signal zur Investition in das Farbschema.

Kreation aus der Herbst-Winter-Kollektion 2023-24 von Prada
Entwurf aus der Herbst-Winter-Kollektion 2023-24 von Prada


Bei Emporio Armani trugen die Models etwas auf einem High-Fashion-Laufsteg seltenst gesehenes: ein Lächeln im Gesicht. Wer "Triangle Of Sadness" von Ruben Östlund gesehen hat, weiß, wie es läuft: die günstigen Fast-Fashion-Marken werden mit breit grinsenden Modellen beworben, während Designer-Prêt-à-Porter à la Balenciaga mit einem mürrischen, grimmigen Gesichtsausdruck präsentiert wird. Giorgio Armani also entschied sich, das Risiko einzugehen und den Spieß umzudrehen.

Auch die Einladung zur Show zierte ein Bild des breit lächelnden Models Noemi Ditzler, das aus einem Armani-Magazin aus dem Jahr 1994 stammte. Unter dem Titel "The Circus of Life" zeigte der italienische Modedesigner eine an das unerwartete Lächeln angelehnte, subtil-ironische Herbst-Winter-Kollektion, wie er es in den Shownotes beschrieb. Inspiriert von Modefotograf Guy Bourdins Werk und Kostümen des elisabethanischen Theaters präsentierte Emporio Armani seine klassischen Anzug- und Kostüm-Designs dekoriert mit schwarzen Halsschleifen und Bowlerhüten, ließ tiefes Fuchsia, Türkis und strahlendes Blau in Samtanzügen, Felljacken und grafischen Maxiröcken auftreten und kombinierte winzige Riementops zu ausladenden Pailletten-Hosen.

Kreation aus der Herbst-Winter-Kollektion 2023-24 von Emporio Armani
Foto: dpa
Kreation aus der Herbst-Winter-Kollektion 2023-24 von Emporio Armani
Kreation aus der Herbst-Winter-Kollektion 2023-24 von Emporio Armani


Guccis Studio-Team zeigte seine zweite Übergangs-Kollektion, die den Shift zwischen Alessandro Micheles Oeuvre und den Visionen des neuen Creative Directors Sabato de Sarno überbrücken sollte. Doch während diese, den Wandel beschreibenden Designs, sich normalerweise in Zurückhaltung üben und viel Interpretationsspielraum lassen, glichen die am vergangenen Freitag gezeigten Looks einer Hymne auf die vergangenen Designgrößen des italienischen Modehauses. Das alle Grenzen ausblendende Tollhaus Micheles wurde mit Tom Fords ikonischem Archiv der 1990er-Jahre-Sexiness vereint und heraus kam eine wilde, das Erbe der Marke ehrende, gleichzeitig jugendliche und raffinierte Kollektion, die Abschied und Neubeginn verband.

Details der Ford-Ära, wie die "Horsebit 1955 Bag", ultraschmale Trensen-Gürtel, kleinste BHs und See-Through-Kleider trafen auf bunte Pelzmäntel, farbige Strümpfe, glitzernde Cut-Out-Materialien und knallige, cookie-monster-fluffige Pullover. Breite Schultern und Variationen von doppelreihigen Sakko-Kleidern mischten sich mit Oversized-Anzügen, Boyfriend-Jeans, weiten Hemden und Samt. Federn, nur die halben Finger bedeckende Lederhandschuhe, Perlendetails und Fell besohlte Sandaletten rundeten das veredelte Chaos zwischen Glamour und Fetisch ab.

Das gesamte Design-Team verbeugte sich zum Finale, einige hatten sowohl Tom Fords Leitung wie auch Micheles Renaissance miterlebt und schienen nun zu sagen: Wir sind bereit, für was auch immer da kommen mag.

Kreation aus der Herbst-Winter-Kollektion 2023-24 von Gucci
Kreation aus der Herbst-Winter-Kollektion 2023-24 von Gucci


Crowdsurfing bei Sunnei. Ein Diskussionsthema während des gesamten Modemonats ist die Wahl der Modehäuser zwischen Viralität und der Tragbarkeit ihrer Entwürfe. Soll etwas in den Social-Media-Plattformen für Aufruhr sorgen oder geht es hier immer noch um Mode, die im besten Falle angezogen werden kann, die Handwerk, Kreativität und Kunst verbindet? Sunnei fand wieder einmal eine wunderbare Balance. Die junge italienische Marke von Loris Messina und Simone Rizzo steht für unkomplizierte, durchdachte, charismatische und den Zeitgeist treffende Mode, die sich neben den italienischen Riesen-Brands behaupten kann.

Den Laufsteg bildete diese Saison eine hohe, weiße Box, um die sich alle Zuschauenden versammelten. Das Sunnei-Team, von Assistenten bis zur Buchhalterin, präsentierte die Kollektion, stürzte sich am Ende des Laufes in die aufgeregte, jubelnde Menge und surfte auf den Händen des Publikums.

Dabei trugen die Modelle fransige Strick-Outfits aus Armstulpen, Bandeau-Top und wadenlangem Rock, bunt karierte Mäntel, Karo-Patchwork-Denim-Einteiler, Colour-Blocking-Hemden, und violette Samt-Anzüge. "Diese Show ist der beste Ausdruck des Sunneiismus", schwärmte Rizzo nach der Show. "Es geht um Freiheit, Vertrauen, Zuversicht, Risikobereitschaft, Interaktion und Beteiligung. Wenn wir an Kollektionen arbeiten, kristallisieren wir sie in einem schwebenden Bild. Wir wollten unser Team feiern, denn es ist unsere tägliche Inspiration. Und wir wollten, dass das Publikum an einem kreisförmigen Moment der Schönheit und Freiheit teilnimmt. Wir dachten an Crowdsurfing als einen intensiven Akt der Reinigung, ein kathartisches Ritual des bedingungslosen Vertrauens".

 


Die GCDS-Show startete mit riesigen gelben Katzenaugen, die sich wachsam im dunklen Palazzo del Ghiaccio umschauten. Der das Bühnenbild gestaltende Katzenkopf war inspiriert von Modedesigner Giuliano Calzas Katze Kittho und wurde als bald von den ersten Herbst-Winter-Entwürfen umlaufen: einem kurzen schwarzen Leder-Kostüm mit Krawatte und einer gelben Telefonhörer-Box-Tasche, die so ähnlich schon bei Puppets & Puppets in New York erspäht werden konnte, braunen Anzug-Elementen und Oversized-Mänteln.

Ein helles Gelb fand sich in Sweatern, Hemden und Accessoires wieder, wurde bald von an männlichen Models präsentierten Lederröcken, flauschigem Tigermuster und senfgelbem Teddy-Fell abgelöst. Für "God Can't Destroy Streetwear" steht das Marken-Kürzel, und obwohl Calza mit schwarzem und rosa Chanel-Bouclé, bodenlangen Kleidern und Hochaus gleichen Highheels spielte, blitzte der Vibe der Straßenbekleidung immer wieder durch. In Form einer grauen Windjacke über einem glitzernden Minikleid, einer gesteppten Leder-Bomberjacke und ebenfalls ledernen Cargo-Pants.

Über seine Kollektion sagte der Designer später: "Ich habe beschlossen, zu erforschen, was mir sehr am Herzen liegt und was ich wirklich mag. Ich habe mich nicht von außen inspirieren lassen, sondern buchstäblich beobachtet, was in meinem Haushalt passiert, meine Katze, meine Bücher, die Texturen meiner Möbel. Das sind Objekte mit großen Erinnerungen."

 

 

Was Daniel Lee begann entwickelt Matthieu Blazy so atemberaubend weiter, dass die Bottega-Veneta-Show eine der heißest ersehnten Events der Mailänder Modewoche darstellte. Der belgische Creative Director schaute für seine Inspiration auf die Straße und "die Idee der seltsamen Begegnung – Menschen, die man auf der Straße trifft und die einen wirklich überraschen. Es ist ein Ort, wo jeder hingehört", wie er "Vogue Runway" sagte. Seine 81 Looks umfassende Kollektion bestand so nicht aus einem, jedes Outfit bestimmenden Konzept, vielmehr erfand der Designer unterschiedliche Figuren, die er nach ihrer jeweiligen Situation und Stimmung einkleidete. Stimulierend, smart und auf leichte, fließende Art und Weise unendlich elegant.

Die ersten Modelle schienen gerade eben in transparentem Negligee-Kleid, bodenlangem (Nacht-)Hemd und weißen Boxershorts aus einem Hotelbett entsprungen. An den Füßen etwas wie luxuriöse Stoppersocken, aus Lederfäden gestrickte Strümpfe: der Veneta-Hausschuh.

Strukturierte Ledermäntel und Kostüme, gepaart mit weichen Overknee-Stiefeln und im Doppel getragenen Handtaschen liefen zwischen mit Spitze besetzten und die Körper umspielenden Lagen-Looks. Blazy ist ein Meister der Details und dem Spiel mit deren Absenz und schickte so abstrahierte, um Knopfleisten, Revers und Hosentaschen arme Anzüge auf den Laufsteg.

Knöchelumspielende Pullover-Kleider an männlichen Models und künstlerisch gestalteter Strick wich zarten, mit tausenden Perlen bestickten und Abendhandschuhen getragenen Blumenkleidern und scharf geschnittenen Woll- und Fellmänteln.

Den Abschluss machten ein weißes Tanktop und eine weite Jeanshose, die im Trompe-l’oeil-Effekt aus feinstem, rasiertem Leder gefertigt waren und klassisch im Understatement den Blazy-Spirit zusammenfassten. Er hatte die perfekte Balance zwischen jedweder Komponente – Material, Qualität, Stilrichtung – gefunden.

Kreation von Bottega Veneta aus der Herbst-Winter-Kollektion 2023-24 auf der Mailänder Modewoche
Foto: Bottega Veneta
Kreation von Bottega Veneta aus der Herbst-Winter-Kollektion 2023-24 auf der Mailänder Modewoche
Kreation von Bottega Veneta aus der Herbst-Winter-Kollektion 2023-24
Foto: Bottega Veneta


Der japanische Newcomer-Designer Tomo Koizumi zeigte seine Kollektion mit der Unterstützung von Domenico Dolce und Stefano Gabbana, die dem Japaner nicht nur ihre Räume, sondern auch Material zur Verfügung stellten. "Ich habe die Kollektion 'Don't Forget to Bring Your Flowers' genannt", sagte Koizumi vor der Show. "Wenn ich meine Freunde besuche, bringe ich Blumensträuße als Geschenke mit, und dies ist mein Strauß für die Menschen in Mailand." An bauschige Blüten erinnerten sie, die monumentalen Tüll-Entwürfe aus gestauchtem Stoff, in sattem Pink, Koralle, Grün und Zitronengelb.

Zwischen Clownkostüm und Kunstwerk kunterbunt gerafft, wie hunderte, miteinander verstrickte Badeschwämme eroberten die ausladenden Kleider den Laufsteg. Das Finale machte ein fünf hintereinander laufende Models beherbergendes Tüll-Cape in allen Farben des Regenbogens.

Kreation aus der Herbst-Winter-Kollektion 2023-24 von Tomo Koizum