"Mr. Turner – Meister des Lichts"

Malen und grunzen

Mit seinem großartigen Spielfilm "Mr. Turner – Meister des Lichts" nähert sich Mike Leigh dem Maler William Turner und seinem Handwerk – ohne dessen Bildwelten zu imitieren

Wer ein Künstlerleben verfilmt, greift gern auf die klassischen Werke zurück. Vor allem bei Malern liegt es nahe, den visuellen Stil des Künstlers mit der Kamera nachzuahmen. Berühmtes Beispiel: "Vincent van Gogh – Ein Leben in Leidenschaft" (Vincente Minnelli, 1956). Aus den Gemälden wurden technicolorsatte Filmsets, in denen Kirk Douglas als van Gogh litt, malte, soff und sich das Ohr abschnitt. Filme über Michelangelo (1965), Goya (1971 und 1999) oder Frida Kahlo (2002) folgten mehr oder weniger diesem Prinzip der Imitation. Bruno Dumont brach 2013 damit, als er "Camille Claudel 1915" als Künstlerinnendrama ohne Kunst inszenierte. Nur: die Bildhauerin brachte als Psychiatriepatientin im Jahr 1915 ohnehin nichts mehr zustande. Somit war Dumonts Verzicht auf eine formale Verwandtschaft zwischen Claudels Kunst und der Filmgestaltung biographisch motiviert.

Bei Mike Leigh (im Interview in der aktuellen Monopol) liegt der Fall anders. Sein Film "Mr. Turner – Meister des Lichts" geht dem Malerischen ganz bewusst aus dem Weg, obwohl er einem Künstler auf dem Gipfel seines Könnens beim Malen zuschaut. Der britische Regisseur hat die letzten 25 Lebensjahre seines berühmten Landsmanns William Turner (1775-1851) verfilmt. Dabei verzichtete Leigh nicht nur auf Mythos und Verklärung, sondern vor allem auf die Nachschöpfung von Gemälden. Zwar finden sich Bildkader, in denen Turner-Kompositionen nachgestellt werden: so sehen wir (dank digitaler Tricks), wie im Jahr 1838 das Schlachtschiff HMS Temeraire von einem kleinen Schlepper zum letzten Liegeplatz verfrachtet wird. Das entspricht der Perspektive des in einem Ruderboot sitzenden Malers, der in diesem Moment eine Bildidee findet. Das Gemälde "The Fighting Temeraire" vollendete er 1839, es ist eines seiner berühmten Werke.

Nur: Leigh und sein Kameramann Dick Pope vermeiden die gespenstische Stimmung, die uns bei der Betrachtung des Originals packt. Dieses und ein paar ähnliche Filmbilder sind eher Einsprengsel in einem überaus realistischen Film. Interessanterweise werden auch die Werke selbst immer nur en passant gezeigt. Statt für das Gemalte – das man ohnehin besser im Museum, in einer BBC-Doku oder sogar im Internet betrachten kann – interessiert sich Leigh für die Malerei als Praxis, für den ackernden Maler, für sein Umfeld, die Familie, die Kollegen der Royal Academy, die Käufer, die adeligen Mäzene, die Kritiker. Auf diese Weise entwirft der Film ein komplexes Bild der britischen Kunstwelt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Im Zentrum steht der große Virtuose. Turner hat es geschafft, er hat es zu Ansehen und Vermögen gebracht. Leigh zeigt einen Könner, aber auch einen im Alltagsleben unsicheren, schweigsamen, zeitweilig nur Grunzlaute ausstoßenden Mann. Für Leighs Intention, uns nah an die Künstlerfigur heranzubringen und doch immer wieder an der harten Schale des schwierigen Menschen abprallen zu lassen, ist Titeldarsteller Timothy Spall das ideale Medium. Zu recht heimste er in Cannes eine Goldene Palme als bester Darsteller ein. Penibel vorbereitet – der Amateurmaler trainierte zwei Jahre lang bei einem Künstlerprofi das Handwerk – verkörpert Spall ein Künstlertum jenseits jeden Geniekults.

Malerei, das zeigen nicht nur die Szenen mit den Konkurrenten innerhalb und außerhalb des akademischen Zirkels, war schon immer ein Geschäft und mitunter pure Plackerei, Trial and Error, Drecksarbeit. Spalls Turner, durch und durch ein Spross der Londoner Arbeiterklasse, ist ein skeptischer, mitunter verächtlicher Charakter, der in privaten Momenten doch immer wieder mit großer Zärtlichkeit überrascht: Die Szenen zwischen Turner und seinem Vater sind so warmherzig wie die Szenen der Liebesbeziehung zwischen dem alten Maler und seiner früheren Zimmerwirtin Sophia Booth.

Grandios, wie Leigh die heimliche Quasi-Ehe des späten Paars schneidend mit der Einsamkeit der Turner-Haushälterin Hannah Danby kontrastieren lässt. Hannah hört nie auf, den Maler zu vergöttern, obwohl sie Opfer seiner sexuellen Übergriffe wurde. In den letzten Lebensjahren des Künsters muss die Dienerin das Haus ihres Herrn hüten, weil ihm Witwe Booth ein gemütliches neues Heim eingerichtet hat. Im alten Atelier und Bilderlager tropft es durch die Decke, Hannah schleicht wie ein Gespenst durch die verwahrloste Wohnung. Ihr Gesicht wird von Auftritt zu Auftritt derber von einem Ekzem entstellt, das vielleicht von den giftigen Pigmenten des Malers herrührt.

Typisch Mike Leigh: Er verschiebt die Tragik auf eine Nebenfigur, statt den Lebenslauf des Malers zum Künstlermelodram zu verfälschen. Turners Existenz mit ihren Aufs und Abs wirkt wie aus dem Leben gegriffen, obwohl der Film in Wahrheit eine Mischung aus gründlichem Quellenstudium und gekonnter Improvisationsarbeit ist. Denn der Realismus von "Mr. Turner" unterscheidet sich kaum von Leigh-Filmen wie "Another Year" (2010) und "Vera Drake" (2004). Auch diesmal hat der Regisseur ein Ensemble mit seiner Methode vertrauter Darsteller um sich geschart. Leighs Darsteller prägen den Plot entscheidend, indem sie Handlungsdetails Szene für Szene während der Proben erschaffen. Produktiver als Leigh hat kaum ein Regisseur seine Theatererfahrungen in die Filmarbeit einbringen können. "Mr. Turner" ist ein Drama im besten Sinn geworden, kein Bilderbogen in Ehrfurcht erstarrter Tableaus. Einen vergleichbaren Künstlerfilm hat es in der Geschichte des Genres nicht gegeben.

"Mr. Turner – Meister des Lichts", ein Film von Mike Leigh, Kinostart: 6. November