Interview mit Jean-Christophe Ammann

"Man braucht den Instinkt eines Tieres"

Jean-Christophe Ammann leitete von 1991 bis 2001 das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt, heute setzt er sich besonders für die junge Künstlergeneration ein. Ein Gespräch über Frauen, neue Herausforderungen für Museen und den idealen Raum

Herr Ammann, wir befinden uns hier im MMK 1, das Sie 1991 als erster Direktor eröffnet haben. Damals hieß es noch einfach Museum für Moderne Kunst, inzwischen verfügt das MMK über drei Dependancen, die letzte wurde vor kurzem im TaunusTurm eröffnet, und gleich die erste Ausstellung in den neuen Räumen stellt eine Premiere in der Geschichte des Hauses dar, weil ausschließlich Künstlerinnen gezeigt werden. Was halten Sie von der Idee einer rein weiblichen Schau?

Die Idee ist hervorragend! Ich habe schon vor vielen Jahren gesagt: Gebt Frauen weltweit Ausbildung, Rechte und leitende Funktionen! Dadurch schafft man Frieden und wirtschaftliche Stabilität. Es ist eine Schande, dass hochbegabte Frauen oft nicht die gleichen Möglichkeiten wie Männer erhalten, weil sie mit 28 Kinder bekommen und dann lange nur noch für die Familie leben. Erst mit 40 können sie sich dann wieder entfalten, aber da sind die Männer schon viel weiter, denn die werden selten durch Kinder zurückgehalten. Vor einigen Jahren diskutierte ich mit einem Kulturbeauftragten in der Schweiz genau darüber. Es ging um ein Stipendium, für das man sich als über 40-Jähriger nicht mehr bewerben konnte. Ich fragte ihn, wie das sein kann, ob man denn die Frauen vergessen hätte? Kurze Zeit später wurde die Altersgrenze auf 70 angehoben, das war eine sehr positive Geste.

Dennoch haben Sie in Ihrer Amtszeit keine vergleichbare Ausstellung ausgerichtet. Warum wird "Boom She Boom" erst jetzt im MMK gezeigt?

Es gibt sehr viele Künstlerinnen, die ich während meiner Zeit als Direktor für die Sammlung zusammengetragen habe, aber es stimmt, eine rein weibliche Ausstellung gab es nicht. Das hat seine Gründe. Es ist in Ordnung, ausschließlich Frauen zu zeigen, aber man muss aufpassen, dass es kein Ghetto wird. Vor ein paar Jahren richtete ich eine Ausstellung in Basel aus, in der ich drei Künstlerinnen zeigte: Lucie Beppler, Anke Röhrscheid und Elly Strik. Es war eigentlich Zufall, dass drei Frauen ausgestellt wurden; die Positionen passten sehr gut zusammen, die Werke ergänzten sich, das hatte nichts mit dem Geschlecht der Künstlerinnen zu tun. Dennoch wurde ich gleich als erstes gefragt, ob das jetzt so eine Feminismus-Geschichte wird. Bis zu dem Moment hatte ich da gar nicht drüber nachgedacht. Heute ist das anders, es wird einfacher, Frauen auszustellen, ohne ein großes Fass aufzumachen. Es ist gut und wichtig, Künstlerinnen zu zeigen, aber das sollte nicht passieren, um unbedingt Frauen zu zeigen, sondern einfach, weil es sehr begabte, großartige Künstlerinnen gibt. Bei einer rein männlichen Ausstellung fragt ja auch niemand nach dem Grund.

Was sagen Sie denn generell zu dem neuen MMK 2 im TaunusTurm?

2000 Quadratmeter zusätzliche Fläche sind für ein Museum natürlich ein beachtlicher Gewinn. Stefan Quandt und Olaf Cunitz, die Initiatoren dieses Projekts, seien gelobt, gepriesen und gepfiffen. Die Idee, diese Dependance zu eröffnen, war ganz hervorragend, auch wenn der Ort nicht einfach ist. Aktuell gibt es vor lauter Durchblicken keine wirklichen Räume, das lässt sich jedoch dank der flexiblen Innenarchitektur ändern.

Das müssen Sie genauer erläutern. Was macht für sie den idealen Raum aus?

Wir müssen uns zuerst fragen: Was ist denn ein Raum? Früher haben wir oft nächtelang an dem Grundriss gearbeitet, um Räume zu schaffen, in denen die Werke zuhause sein können. Man braucht Proportionen, die sind ausschlaggebend. Die besten Museen haben Proportionen. Stellen Sie sich eine Wohnung vor, die Sie zum ersten Mal betreten. Wenn sie stimmig ist, fühlen Sie sich aufgenommen, die Räume empfangen Sie. Sie merken aber sofort, wenn etwas in den Proportionen nicht stimmt. Dann bleibt die Wohnung anonym, Sie stellen keinen Bezug her. So verhält es sich auch bei der Kunst. Kunstwerke sind Wesen mit eigener Ausstrahlung, sie müssen wirken und kommunizieren können. Ich nehme lieber wenige und präsentiere sie richtig, als dass ich einen ganzen Haufen wahllos verteile. Ein Kunstwerk ist ein Energiespeicher, ganz gleich, ob einem ein bestimmtes Werk gefällt oder nicht, da hat jemand einmal sein Herz, seine Seele hineingesteckt und deshalb braucht es Räume, in denen diese Werke nicht untergehen.

Wie ordnen Sie im Vergleich das Hauptgebäude, das MMK 1, ein? Das Haus steht nicht unbedingt in dem Ruf, dass es einfach zu bespielen ist.

Dieser Bau hat eine hohe Qualität, er ist innen viel größer als es von außen den Anschein hat. Ich habe damals versucht, möglichst viel Einfluss zu nehmen. Ein Außenstehender erkennt meine Eingriffe natürlich nicht mehr, aber Hans Hollein hat sich bitter beklagt über meine Einmischungen.

Wie war es für Sie, mit diesem Architekten zusammenzuarbeiten? Er war ja schon damals sehr prominent.

Hans Hollein war nicht sonderlich gesprächsfreudig. Als ich 1981 nach Frankfurt zog, kam das Museum schon aus dem Boden hervor, von meinen Ideen wollte man erstmal nicht viel hören. Da setzte ich mich hin und schrieb einen achtseitigen Brief an den damaligen Kulturstadtrat Hilmar Hoffmann. Der war zunächst nicht sonderlich begeistert; er ließ mich um acht Uhr morgens in sein Büro kommen und fragte mich, was ich eigentlich will. Aber nachdem ich es ihm ausführlich erklärt hatte, war er auf meiner Seite und unterstützte mich. Das hat Herrn Hollein keine Freude bereitet, aber das Ergebnis ist hervorragend geworden. Man sieht dem Gebäude auch heute sein Alter nicht an: Die Räume sind hell, alles ist intakt. Das ist wirklich zu einem großen Teil dem Engagement Hilmar Hoffmanns zu verdanken. Es war nicht einfach für mich als er ging.

Es wird allgemein nicht einfacher für Museumsdirektoren bei den vielen Kürzungen und Sparprogrammen.

Das ist richtig. Wir sind vorhin an den "Soup Cans" von Andy Warhol vorbeigegangen – das Werk war ursprünglich ein Teil der Sammlung Ströher. Das Museum konnte die Sammlung Anfang der 80er-Jahre für 4,8 Millionen Mark erwerben. Das waren fast 90 Werke von hochkarätigen Künstlern, von denen Warhol nur einer war. Und wir müssen wohl nicht darüber reden, was allein dieses eine Werk heute wert ist. Unbezahlbar.

Wo sehen Sie die Zukunft von Kulturinstitutionen, wenn es so schwer beziehungsweise teuer wird, Kunst anzukaufen oder auch auszustellen? Haben Sie einen Rat für die Direktoren, die aktuell im Amt sind?

Man braucht den Instinkt eines Tieres, am besten eines Hundes. Frühe Erkenntnis ist wichtig, Intuition. Viele der Werke, die zu meiner Zeit angekauft wurden, kann man sich heute nicht mehr leisten, aber darum geht es auch nicht. Es gibt so viele begnadete junge Künstler, die keine Beachtung bei den großen Häusern finden, weil sie noch nicht bekannt genug sind, aber als Kurator oder als Leiter eines Museums muss man beachten, wo es hin geht, in welche Richtung sich der Kunstmarkt entwickelt. Der Kunstmarkt hat die Kunstkritik ersetzt, das ist schade, aber nun ist es an uns, den jungen Leuten Aufmerksamkeit zu schenken und zu schauen, wo die zyklische Kraft sich hinbewegt. Wenn alle in eine Richtung blicken, schaut der Schlaue in die andere. Heute wird der junge Künstler nicht weiter gewürdigt, aber in zehn Jahren heißt es dann: "Hätten wir damals doch bloß ..."

Sie setzen sich auch persönlich sehr für die Förderung von Nachwuchskünstlern ein. Welche Projekte verfolgen Sie zurzeit konkret?

Mich interessiert wirklich außerordentlich, was junge Künstler heute machen, ich bin sehr neugierig, deshalb lese ich auch sehr viel. Das Lesen inspiriert mich. Als ich 2001 mit 62 Jahren das MMK verließ, war ich zunächst acht Jahre in der Kundenbetreuung tätig. Dann habe ich mehrere große Ausstellungen organisiert, unter anderem „Van Gogh bis Beuys“ in der Kunsthalle in Bonn. Ich betreue die Fotografie-Sammlung der Deutschen Börse  und ich gebe noch immer Seminare für die Studenten an der Goethe-Universität. Das Schönste ist heute jedoch, dass ich auch auf kleinstem Raum etwas machen kann. Ich freue mich, wenn ich mit jungen Künstlern in Galerien arbeiten kann. Es ist so: Wenn man klein anfängt, will man hoch hinaus. Aber wenn man schon ganz oben ist, dann kann man auch Kleines machen.