Manischer als Munch: New York bringt die grotesken Seelenlandschaften des James Ensor ans Licht

Die Kunstgötter hatten sich etwas ganz Besonderes für James Ensor (1860–1949) ausgedacht. Eine Brüsseler Salonausstellung im Jahr 1887 (demselben Jahr, in dem die Götter eine Begegnung zwischen van Gogh und Gauguin einfädelten) war der entscheidende Moment für diesen avantgar- distischen Maler. Ensor, Mitbegründer der Künstlervereinigung Les XX, war 27 Jahre alt, lebte noch bei seiner Mutter im belgischen Ostende und zeigte eine Reihe von großformatigen, grauen Zeichnungen eines zeitgenössischen Christus: sein künstlerischer Durchbruch.


Wie es das Schicksal wollte, wurden diese Blätter neben Georges Seurats revolutionäres Gemälde „Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte“ gehängt. Und seitdem wird Ensor immer wieder gegen den Meister-Pointillisten in Stellung gebracht.
Im Vergleich war die Reaktion auf Ensor bestenfalls gemischt. Viele Kritiker und Ausstellungsbesucher, darunter auch befreundete Künstler, die sich für Seurat begeisterten, fanden James Ensors religiöse Zeichnungen „hoffnungslos überholt“. (Ensor sprach enttäuscht von „bizarren, hinter den Kulissen agierenden Pointillisten“, sah sich „von Feinden umringt“ und als Zielscheibe „niederträchtiger, bösartiger Angriffe“.)


Noch heute wird Ensor gelegentlich als „Anti-Seurat schlechthin“ bezeichnet. Dabei war er viel mehr als das: nämlich neben El Greco einer der seltsamsten und eigensinnigsten Maler aller Zeiten. Seine unruhigen Oberflächen, die lebhaften Farben, die verdrehten Figuren, die fiebrige Pinselführung und die aberwitzigen Physiognomien sind einzigartig. Die sorgfältige Retrospektive im Museum of Modern Art zeigt jetzt, dass er wie kaum ein anderer Menschen- mengen, Masken, Karikaturen und Kakofonien malen konnte. Trotz der Effekthascherei, zu der er mitunter neigte, machen ihn sein zorniger Blick und seine geradezu perverse Seelenlandschaft zu einem der großen Visionäre in der Kunstgeschichte.


Ensor, dieser hysterische Erforscher der Pathologien des Fin de Siècle, zeigt uns Könige, die auf Bürger scheißen, einen urinierenden Mann vor einer Wand mit dem Spruch „Ensor est un fou“ (Ensor ist ein Verrückter), Skelette, die um einen Salzhering kämpfen, Kellner, die Menschenköpfe servieren, fleisch- fressende Geis­ter, kotzende Komiker und umherwirbelnde Dämonen. Mit diesen grotesken Visionen ist Ensor ein Wegbereiter des 20. Jahrhunderts mitsamt Expressionismus und Surrealismus. Er nimmt so unterschiedliche Künstler wie Miró, Florine Stettheimer, Henry Darger, Cy Twombly und Verne Dawson vorweg.


Ensors Vater, ein Brite, war ein stadtbekannter Säufer, er selbst blieb fast sein Leben lang am Meer in seiner Geburtsstadt Ostende; er war in der Kunstwelt ein Außenseiter, auch noch, als er in den letzten vier Lebensjahrzehnten langsam berühmt wurde. Sein Platz war der „in einem Randbezirk der Malerei“, wie er selbst sagte.


Seine Düsternis lässt an seinen Zeitgenossen Edvard Munch denken, aber anders als dieser war Ensor in seinem tiefsten Herzen kein Maler der Tragödie. Sein Thema war die menschliche Komödie, die Kraft des Lachens und der Fantasie, die aus Schmerz und Elend befreit. Seine besten Werke sind experimenteller als die Munchs oder irgendeines anderen Künstlers des späten 19. Jahrhunderts, allein die Oberflächen seiner Malerei sind ein Erlebnis. Er war da, als die sozialen Risse sich auftaten, die das 20. Jahrhundert prägen sollten, er hat die Ironie, die Morbidität und das Groteske der kommenden Zeit gespürt.


Statt nun entschlossen Ensors herausragende Seltsamkeit zu feiern, hat Kuratorin Anna Swinbourne eine nachdenkliche, vorsichtige Schau eingerichtet, die die stilistische Entwicklung des Künstlers nachzeichnet, von den frühen erdfarbenen, tachistischen Werken hin zu erkennbar von Courbet und Manet beeinflussten Traumwelten aus Farbe, Licht und Linie. Gern hätte man mehr von dem extravaganten und zügellosen Ensor gesehen, denn die visuelle Intensität ist seine größte Qualität.


Die Ausstellung zeigt nicht weniger als 120 Werke, viele der besten stammen aus den Jahren zwischen 1885 und 1895. Leider reicht die Schau, dem üblichen Ensor-Bild folgend, nicht über die Jahrhundertwende hinaus. Zwar wiederholte sich der Künstler da schon oft und griff auf ältere Werke zurück, aber wenn die wenigen hier gezeigten späteren Arbeiten (ein Interieur von 1900 verweist schon auf Matisse) ein Anhaltspunkt sind, dann könnte es durchaus noch eine Menge zu entdecken geben.


Auch sonst bleiben unvermeidliche Lücken. Aus restauratorischen Gründen mochte das Getty Museum Ensors Meisterwerk „Christi Einzug nach Brüssel im Jahr 1889“ nicht ausleihen, eine unheimliche Vision des Künstlers als Jesus auf einem Esel, inmitten eines Meeres skurriler Fratzen.


Mein Lieblingswerk aber ist da: die „Versuchung des heiligen Antonius“ (1887), eines der radikalsten Bilder der frühen Moderne. Es zeigt einen Heiligen mit Kapuze, über ihm Teufelsfiguren und Dämonen, die furzend und scheißend umherfliegen. So wild das Thema, so wild ist es gemalt – nervöser, kraftvoller Pinselstrich, üppige Farben, die Wolken, Berge, Wälder und Gedankenballons darstellen.


Heute, da wir unser eigenes Fin de Siècle erleben, nach der wilden Party aufwachen, die Ärmel hochkrempeln und ernst an die Arbeit gehen, könnte Ensor eine wichtige Inspiration sein. Er zeigt uns, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als wir uns träumen lassen.

 

Aus dem Englischen von
Matthias Fienbork

 

 

Museum of Modern Art, New York, bis 21. September.

Zur Ausstellung hat das MoMA

einen Katalog veröffentlicht, 209 Seiten, circa 45 Euro