XVII. Rohkunstbau

Mehr Arkadien denn Atlantis

Das Schicksal von Atlantis, der Supermacht, die innerhalb „eines einzigen Tages und einer unglückseligen Nacht“ unterging, mag in Anbetracht der Krisenseligkeit, von der Politik und Medien ergriffen sind, nicht mehr nur als Fiktion, fernab von jeglichem Realitätsbezug, verstanden werden.

„Atlantis II – Hidden Histories – Imagined Identities“  nennt sich die diesjährige Rohkunstbauausstellung, ein freies Projekt, das seit 1994 jährlich ortsbezogene, zeitgenössische Kunst präsentiert. Die Doppelausstellung „Atlantis“ findet in diesem Sommer auf Schloss Marquardt bei Potsdam ihren Abschluss. Das Projekt greift den philosophischen Diskurs gegensätzlicher Gesellschaftsmodelle zwischen Platon und seinem Schüler Aristoteles auf.

Aristoteles kritisierte mit seinem Modell „Demos“, der Bürgerdemokratie, die Staatsidee seines Lehrers, die „Aristos“,  in der nur einige wenige, besonders befähigte Individuen regieren. Atlantis verkörperte für Platon den Idealstaat mit mehreren Königen, die untereinander alle gleich waren. Die Bewohner Atlantis‘ verfielen der Sage nach jedoch dem Laster der Hybris, der Anmaßung, und unterwarfen sich große Teile Europas und Afrikas. Letztlich verschwand Atlantis infolge einer Naturkatastrophe im Meer und wurde somit Projektionsfläche für Utopien, aber auch Sinnbild für die Folgen von Vermessenheit. Soweit die thematische Grundriss der Ausstellung. Doch welche Reichweite hat die Sage heute noch? Die zehn ausstellenden Künstler versuchen, ihre ganz eigenen Antworten zu finden.

Der Mensch als Platzhalter

In Analogie zu den zehn Königen Atlantis‘ kreiert Niklas Goldbach in einer Videoarbeit eine scheinbar perfekte, absolut stilisierte Welt in der er als zehnfaches Abbild seiner selbst agiert. Die Klone können jedoch nicht miteinander kommunizieren, da sie ein und derselbe sind. Der Fernseher einer Luxussuite wird in seiner Allgegenwärtigkeit zum Sinnstifter, zur Metapher für das Orakel von Delphi. In Goldbachs Welten existiert der Mensch nicht mehr als Individuum, er wird zum Platzhalter, zum Stereotyp.

Wafae Ahalouch El Keriasti baute in ihrer Arbeit „Fearless Fountain“ die von Nymphen bevölkerten Quellen Atlantis nach. Die weiß lackierten und schwarz konturierten Holzzuschnitte in Nymphengestalt haben jedoch wenig mit den mythologischen Vorbildern gemein, die – stets um die Wahrung ihrer Keuschheit bemüht – sich nach Möglichkeit außerhalb von begehrenden Männerblicken entkleideten. El Keriastis „Gottheiten“ entsprechen in ihren Proportionen idealisierten Männerfantasien. Unbekleidet, nur in High-Heels, nehmen sie gängige Posen von Pin-up-Girls ein. Irritierend jedoch wirkt die Gesichtslosigkeit, statt auf Augen, Nase und Mund blickt man auf eine weiße, leere Fläche.

Der Verzicht auf Individualität, die Reduktion auf weibliche Reize, deren Wirkung durch die hohen Schuhe noch verstärkt wird: Sinnbild für die Verführung als Ursache für den Untergang? Diese Lesart scheint zumindest intendiert wenn man sich das zweite ausgestellte Werk der Künstlerin, „The Carousel“, anschaut. Auf den ersten Blick ein in derselben Technik wie die Nymphen angefertigtes altmodisches Jahrmarktskarussell mit vier Pferden, Symbol der Stärke des atlantischen Heeres. Auf den zweiten Blick erkennt man, dass die Tiere im Sturz begriffen sind – zwischen ihnen finden sich wieder die mit High-Heels bestückten Frauenbeine.

Wohin Selbstüberschätzung führt

Auf den berühmten Fall nach dem Hochmut spielt auch das Werk Stefan Roloffs an. Der Künstler hat durch eine vor die bestehenden Wände gesetzte „Architektur“ eine gotische Kathedrale entstehen lassen, die sich zur Decke hin offen in den Raum verliert. Hinter den spitzbogigen „Fenstern“ laufen Videos, in denen Personen aus allen Kontinenten von ihren Zukunftsvisionen berichten, auf Grund der Simultanität entsteht ein Stimmengewirr, das ein Verstehen unmöglich macht. Gleiches widerfuhr in dem biblischen Turmbau zu Babel den Babyloniern.

Die meisten Arbeiten der Ausstellung sind Mahnungen, die uns daran erinnern, wohin Selbstüberschätzung und Allmachtsansprüche führen können. Lösungen für einen Ausweg aus der Misere oder Vorschläge, wie Idealstaaten aussehen könnten, liefern die Werke allerdings nicht – wie sollten sie auch? Man mag der von Mark Gisbourne kuratierten Ausstellung jedoch eine gewisse Plakativität oder Glattheit vorwerfen. Aber eben dieser oftmals recht einfache Zugang zu den Werken macht sie zu einem äußerst kurzweiligen Erlebnis. Der Charme des heruntergekommen Schlösschens und die idyllische Umgebung tragen außerdem dazu bei, dass einem Arkadien ausnahmsweise näher scheint als Atlantis.

 
9. Juli bis 12. September, Eröffnung am  4. Juli ab 16 Uhr