Mikro-Trends auf Social Media

Vom Algorithmus angezogen

Balloon Skirts, Adidas Sambas, "Tomato-Girl": Auf TikTok entstehen Mikro-Trends über Nacht
Fotos: CC via Pixabay, Collage: Monopol

Balloon Skirts, Adidas Sambas, "Tomato-Girl": Auf TikTok entstehen Mikro-Trends über Nacht

"Tomato Girls", "Cunty Country" und "Mob Wife": Social-Media bringt ständig neue Modetrends hervor, die zu immer mehr Konsum führen sollen. Nun ist plötzlich wieder individueller Stil angesagt. Aber weiß noch jemand, was das ist?

Vor knapp einem Jahr versuchte das "W"-Magazine das schier Unmögliche: Alle Mikro-Modetrends des Jahres 2024 vorzustellen. Von "Office Siren" über "Cunty Country", bis zu "Mob Wife" und "Ladies who Lunch". Ach, Sie hatten gar nicht mitbekommen, dass man sich wie eine reiche Ehefrau, die Partnerin eines Mafiosos oder ein texanischer Cowboy kleiden sollte? Dann sind Sie wohl nicht chronisch online. Und haben auch keine Entzugssymptome zu befürchten, jetzt wo die Mikro-Trends sich wieder verabschieden und der persönliche Stil im Vordergrund stehen soll. Wenn man denn noch weiß, wie der eigentlich aussieht. 

"Ein Mikro-Trend ist eine nischen- oder branchenspezifische Tendenz im Verbraucherverhalten, die für den Massenmarkt geeignet und umsetzbar ist. Aufgrund ihrer kürzeren Lebensdauer sind Mikro-Trends in der Regel von Makro-Trends abgeleitet und bieten Innovatoren, Designern und Marketingfachleuten die Möglichkeit, diese aufkommenden Verbrauchermentalitäten zu nutzen", weiß die Website Trendbible.com

Musik, Filme und visuelle Kultur ganz allgemein dienen als eine konstante Inspirationsquelle. Verbreitet durch das nie schlafende Internet, entstehen so im Minutentakt neue Mini-Strömungen. Ein bestimmtes Stück einer Modekollektion, ein Selfie von Hailey Bieber oder ein eisblauer Lidschatten reichen aus, um eine expressiv englisch benannte Trendwelle auszulösen. Nach kürzester Zeit wird diese durch eine neue, ebenso kurzlebige Ästhetik abgelöst, und schon ein Jahr später erinnert sich niemand mehr an irgendeine davon.

Der Peak der Trend-Absurdität

Je schneller die Trends, desto unverzüglicher braucht das Publikum die passende Uniform. Sei es eine Pelzjacke oder eine Brille aus Fensterglas. Die Fast-Fashion-Modeketten verteilen die spezifische Ausstattung nur zur gern im Eiltempo. Der Peak der Trend-Absurdität war vielleicht die Birkin-Bag-Kopie. Jane Birkin, Muse und Namensgeberin der berühmten Hermès-Tasche, behängte ihre Version mit allerlei Krimskrams. Sie nutze das Luxusgut als einen Gebrauchsgegenstand, stopfte es mit Babysachen und Büchern voll. Sogar ihre Katze soll darin geschlafen haben. 

Ein Ausläufer des Makro-Trends "Boho-Chic", den Chloés Herbst-Winter-Kollektion ausgelöst hatte, führte dazu, dass junge Menschen absurd teure Accessoires kauften, wie etwa einen Miu-Miu-Anhänger für schlappe 500 Euro, und ihre Taschen artifiziell personalisierten. Nicht, weil sie eigene Erinnerungen und Reisen mit den angehängten Tierchen, Ketten und Logos verbanden, wie es bei Jane Birkin der Fall gewesen war. Sondern weil sie dem "Bag Charm Trend" hinterherjagten. Das war fast schon traurig, denn weniger authentisch geht es kaum. 

Doch dann kam, was kommen musste: Mikro-Trends sind nicht mehr im Trend. Seit Beginn des neuen Jahres tauchen immer mehr Analysen und Recherchen auf, die das Ableben des kürzesten aller Modephänomene bestätigen. Vor wenigen Tagen erst publizierte der Brand Strategy Consultant Eugene Healey ein Reel mit dem nerdigen Namen "Der Tod der Mikro-Trends und das Leben nach dem Brain Rot". Letzterer Begriff, auf Deutsch "Gehirnfäule", wurde als das "Oxford Wort des Jahres 2024" gekürt und wie folgt definiert: "Die vermeintliche Verschlechterung des geistigen oder intellektuellen Zustands einer Person, insbesondere als Ergebnis eines übermäßigen Konsums von Material (jetzt vor allem Online-Inhalte), das als trivial oder unbedeutend angesehen wird. Auch: Etwas, das zu einer solchen Verschlechterung führen kann."

 

Die Quintessenz des Reels: Ein Leben im Internet und das Tragen von Mikro-Trends gehen Hand in Hand. Algorithmen hätten unseren persönlichen Stil komplett ruiniert, sagt Healey. Auch würden sie die extremsten Meinungen belohnen, weshalb Mikro-Looks immer absurder aussähen und sich davon entfernten, wie Menschen sich eigentlich kleiden wollten. 

"Das Tragen von Mikro-Trends wird mittlerweile als statusniedrig angesehen", führt der Stratege weiter aus, "weil es im Grunde allen zeigt, dass du permanent online bist." Das sei nicht mehr Mode, sondern Cosplay, also Verkleidung. Jetzt entwickele sich dieser Trend zurück. Das reale Leben sei der neue Luxus, Normalität und Eigenheiten würden begehrenswert. Ein Kommentar unter dem Video hält fest: "Wenn du echten Stil hast, existieren Mikro-Trends für dich nicht", und auch das stimmt. Wer tief in seinen Stilvorlieben ruht und auch vor dem Mikro-Absturz schon wusste, dass ein "Bubble"-Rock niemandem steht, hat keine krassen Konsequenzen zu befürchten. 

Aber wie konnten diese Trendstrudel überhaupt so mächtig werden, dass man zwingend wie ein "Tomatenmädchen" aussehen musste - oder eine Großmutter, die an der Küste lebt? Wie so oft ist vor allem Corona schuld. "Als die Pandemie den Trendzyklus unterbrach, nutzten Verbraucher mit zusätzlichem Erspartem und Lust auf Experimente die Gelegenheit, verschiedene Ästhetiken auszuprobieren, zu benennen und zu teilen. Die Modepresse berichtete über jede neue Welle, und Marken sowie Einzelhändler passten ihr Sortiment entsprechend an, um den Umsatz anzukurbeln. Es war eine Neuheit, da die Videoplattform TikTok die Trends schneller aufsteigen ließ als je zuvor", heißt es in "Business of Fashion".

Niemand muss seine Identität an einen Fischerhut anpassen

Wie in einem Hamsterrad gefangen, hangelte sich gerade die Gen-Z von Ästhetik zu Ästhetik, von "Barbiecore" zu "Cottagecore". Auf der Suche nach Gemeinschaft und darauf bedacht, ein bestimmtes Gefühl zu verbreiten. Doch jetzt wird sich wieder auf die Welt außerhalb der sozialen Netzwerke berufen. Die Nachfrage nach Kleidern, die für bestimmte Events und Aktivitäten geeignet sind, steigt. Outfits müssen keine Geschichte mehr erzählen, während man stumm vorm Bildschirm sitzt. Man selbst darf nun das Narrativ entwickeln, wieder rausgehen und testen, ob man vielleicht Tomaten anbauen möchte und was man dazu wohl am besten trägt.

"Rückläufig ist vor allem das Bedürfnis, Stile in hypernischige Ästhetiken einzuordnen", heißt es in der "Vogue Business". Klar, einen Fischerhut kann man gern noch tragen und auch ein weißes Leinenkostüm oder auch braunes Wildleder, um Himmels willen. Aber man muss nicht direkt seine Identität ändern und völlig vergessen, wer man ist und was einem gefällt.

Die Konsequenz der Extrem-Trends ist letztlich, dass sich alle gleich kleiden. Die Verunsicherung ist groß, genauso wie der Druck, in Mode zu sein. Und anstatt sich auszuprobieren und sich selbst zu finden, hat jetzt einfach jeder einen beigen Mantel und Adidas Sambas, eine weite blaue Jeans und eine braune Henkeltasche – sicher ist sicher. 

Einfach das nutzen, was schon im Schrank hängt

Schluss damit! Das Trendprognoseunternehmen WGSN beobachtet eine verheißungsvolle Entwicklung. Verbraucher strebten nach Individualität und lehnten Standardisierung ab, heißt es. "Statt einzelne Kleidungsstücke strikt bestimmten ästhetischen Trends zuzuordnen, legen sie den Fokus auf Schlüsselstücke und deren vielseitige Styling-Möglichkeiten."

Es wird wieder wichtig, selbst kreativ zu werden und einzelne Entwürfe nach dem eigenen Geschmack zu kombinieren. Und während Modeketten und gerade Fast-Fashion-Giganten darüber nachdenken, wie sie in dieser Stimmung ihre Ware am besten loswerden: Einfach das nutzen, was schon im Schrank hängt. Die neue Herausforderung wird nicht sein, alle Trendstücke so schnell und günstig wie möglich nachzukaufen. Sondern das Beste aus dem zu kreieren, was man bereits besitzt. Das Gehirn ist zurück, Geschmack wird gefördert. Und wer dann noch beides im realen Leben präsentiert, liegt ganz im Trend.